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Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Geschwister - Liebe und Rivalitaet

Titel: Geschwister - Liebe und Rivalitaet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Petri
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zeigen. Ich glaube, ältere Geschwister sind besonders dazu verdammt, sich nach außen durch Stolz zu wappnen. Wenn ich an deinem Hausfrauendasein, deinem Mann und deinen Kindern herumkritisiert habe, so war es doch sicher nur der Neid auf die Dinge, die ich bei allem beruflichen Erfolg nicht erreicht habe.
    Es ist furchtbar, wenn zwei Menschen, die so tief verbunden waren wie wir, in solche Fallen laufen. Bitte, lass uns einen Versuch machen! Ich kann dir nicht alles schreiben, was michbewegt, aber ich möchte es dir erzählen, wie damals – weißt du noch? – wenn wir abends im Bett lagen und uns von unseren ›Froschkönigen‹ erzählt haben.
    Schreib mir oder ruf mich an, wenn auch du die Vergangenheit begraben und die Vorvergangenheit wieder leben lassen willst. Dornröschen waren wir lange genug. In alter schwesterlicher Liebe, deine Ingrid.«
    Ohne die Gruppenerfahrung hätte Ingrid diesen Schritt nicht tun können. Wie nach dem Brief zu vermuten war, meldete sich die Schwester schon kurze Zeit danach.
    Die Erwartung, dass zerstrittene Geschwister gleichzeitig die Hand ausstrecken, ist wenig realistisch. Im Gegenteil erwartet jeder vom anderen, er müsse den ersten Schritt tun; dann sei man ja grundsätzlich zur Verständigung bereit. Auf diese Weise können leicht 100   Jahre ins Land gehen. Jeder verschanzt sich hinter seiner Gekränktheit, seinem Trotz, seinem Stolz und hinter seinem angeblichen Recht und erwartet im Entgegenkommen des anderen insgeheim dessen Unterwerfung und den Genuss des eigenen Triumphes. Aber je tiefer die Sonne sich neigt, umso breiter werden die Schatten, die schließlich keiner mehr zu überspringen vermag. Ingrid hatte Glück. Durch eine einzige Gestaltübung war sie in einen Gefühlsstrudel hineingezogen worden, der die Fassade ihrer Abwehr zerbrechen ließ. Hinter allen Rationalisierungen für ihre Kontaktverweigerung und hinter allem Aufrechnen von Schuld und einseitigen Schuldzuweisungen traten mit Macht ihre verdrängten Gefühle hervor, zuerst der Hass über den Verrat und dann aus einer tieferen Schicht ihre Trauer über den Verlust der Schwester und schließlich ihre Sehnsucht nach Versöhnung. Ohne diese Gefühlsanteile, ohne das Bedürfnis nach Nähe wird ein Versuch zur Verständigung nur selten gelingen, weil eine nur auf Vernunft basierende Einsicht sich immer wieder in den Fallstricken der Abwehr verfangen wird. Ingrid hattekeine Angst mehr vor ihren Gefühlen, sie konnte ihren Stolz aufgeben und empfand es nicht mehr als Unterwerfung und Schwäche, ihre jüngere Schwester um einen neuen Anfang »zu bitten«. Jemanden um etwas bitten. Wie schwer das oft ist! Der Bittende erlebt sich häufig als hilflos und schwach; indem er seine Bitte in das Gewand einer Forderung kleidet, sichert er sich seine scheinbare Überlegenheit. Eine Forderung kommt aber einer Herausforderung gleich, die den anderen hart macht statt weich. Das Paradox eines falsch verstandenen Stolzes liegt in der Schwächung der eigenen Stärke; je mehr man sich mit ihm rüstet, umso unweigerlicher wird man sein Gefangener. Denn der falsche Stolz stellt keine Beziehung her, sondern zerstört sie und vermehrt damit das Leid.
    Wie lässt sich ein solcher Kreislauf aufbrechen? Im Zusammenhang von Trennungskonflikten in Paarbeziehungen habe ich mich an anderer Stelle ausführlich mit den psychologischen Facetten der Versöhnung auseinandergesetzt. 49 Ohne die dortigen Überlegungen im Einzelnen zu rekapitulieren, möchte ich hier nur kurz benennen, was mir als das Wichtigste erscheint: Die Versöhnung mit den anderen setzt zuallererst die Versöhnung mit sich selbst voraus. Bezogen auf Geschwisterkonflikte bedeutet dies vor jeder konkreten Wiederannäherung eine gründliche Innenansicht, bei der man die eigenen Schattenseiten ausleuchtet. Dabei tauchen zahlreiche Fragen auf, die eine offene Antwort verlangen: Was habe ich meiner Schwester/meinem Bruder angetan? Wodurch habe ich sie/ihn beleidigt oder gekränkt? Was habe ich in der Beziehung versäumt? Wie habe ich meine Dankbarkeit und Zuneigung und mein eigenes Bedürfnis nach Nähe gezeigt? Habe ich immer nur meine Stärke betont und meine Schwäche verheimlicht, oder umgekehrt? Wie oft habe ich Hilfe angeboten; wie oft habe ich sie wirklich geleistet; wie oft habe ich sie verweigert? Konnte ich die Erfolge des anderen anerkennen und meineMit-Freude ausdrücken? Habe ich die Partner meiner Geschwister auch innerlich angenommen? Und ihre Kinder? Wurde ich

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