Geschwister - Liebe und Rivalitaet
von meinen Eltern, und von wem besonders, bevorzugt? Wie habe ich das gegen die Geschwister ausgespielt? Habe ich mich jemals für ihre Probleme interessiert, oder habe ich den Kontakt vernachlässigt? Bin ich jemand, dem man vertrauen kann, oder neige ich eher zum Verrat? Wie oft habe ich selbst um Hilfe gebeten und sie angenommen? Habe ich überhaupt gezeigt, wie wichtig der andere mir ist? Wie steht es um meine Gefühle von Neid, Rivalität, Ärger, Enttäuschung, Wut und Hass?
Fragen über Fragen. Das geduldige und ehrliche Suchen nach einer Antwort ist wie ein Blick in einen Spiegel, in dem man plötzlich neue Seiten in sich entdeckt und alte aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Es sind unsere Schattenseiten, die wir bisher nicht gesehen haben, weil sie erschreckend sind, nicht sehen wollten, weil sie unser heiles Selbstbild zerstören könnten. Bei diesem Prozess der Selbstreflexion ist es oft hilfreich, sich auch im Spiegel des anderen zu betrachten: Wie sieht meine Schwester/mein Bruder mich? Wie sehen mich andere Menschen?
Je konkreter man sich einzelne Personen seiner Umwelt dazu vorstellt, Geschwister, Eltern, Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen, umso plastischer wird das Bild, das andere von einem haben. Auch dabei trifft man auf die Anteile in sich, die einem bisher fremd waren, die man in sich abgespalten und verleugnet hat, weil sie das eigene Selbstgefühl irritieren. Jeder Mensch ist in manchen Bereichen seiner Person sich selbst ein Fremder, einer, den man nicht versteht, dessen Eigenarten man ablehnt. Es sind meist die dunklen und negativen Seiten in uns, die durch Abwehrprozesse nicht integriert, sondern verfremdet wurden. Das Fremde kehrt dann nur in den anderen wieder und lässt sich dort umso besser verurteilen und verfolgen.
Die Aufgabe besteht also darin, das Fremde in sich aufzuspüren und es als zu sich gehörig anzunehmen und zu integrieren. Gut und Böse bilden eine Einheit in jedem von uns. Dies zu akzeptieren entschärft die Konflikte, die aus der Abwehr des Bösen und seiner Projektion auf andere entstehen. Plötzlich erkennt man, dass das Fremde am Bruder oder an der Schwester, das man immer so gehasst hat, ein Teil von einem selbst ist. Sich mit all seinen Schattenseiten und den fremden, bisher ausgegrenzten Anteilen von sich selbst zu versöhnen ist daher die Voraussetzung zur Versöhnung mit den anderen und zur Wiedergutmachung des an ihnen begangenen Unrechts.
Insofern war es verkürzt zu sagen, Ingrid habe durch eine einzige Gestaltübung zu ihren Gefühlen zurückgefunden, ihre Abwehr aufgeben und sich dadurch mit der Schwester versöhnen können. Schließlich war sie aus einem Leidensdruck in die Gruppe gegangen und bewies damit ihre Offenheit für neue, emotional gewonnene Einsichten über sich selbst. Erst diese Bereitschaft zur Innenansicht ermöglichte ihr die eruptive Gefühlserfahrung des Geschwisterkonfliktes und die Erkenntnis ihrer eigenen Mitbeteiligung.
Wenn man den eigentlichen Grund bedenkt, der Ingrid in die Gruppe geführt hatte, nämlich ihre Probleme als alleinerziehende Mutter, scheint die Aufdeckung des Zerwürfnisses mit der Schwester zunächst wie ein Zufallsergebnis. Tatsächlich bestätigte aber der weitere Verlauf eine häufige Erfahrung; nach ihr vollzieht sich die Art und Weise, wie Geschwister von früher Kindheit an ihre Konflikte auszutragen lernen, nach typischen Mustern, die sich in späteren Beziehungskonflikten mit anderen Menschen wiederholen. Deswegen gehören Geschwister, wie wir an früherer Stelle sahen, zu den wichtigsten Modellen, an denen der Umgang mit Konflikten eingeübt wird. Allerdings bilden die Eltern dabei wichtige Leitbilder.
Ingrid und ihre Schwester Elli hatten als Kinder die Erfahrunggemacht, dass ihre Eltern auf alle Fälle jeden Streit in der Familie vermeiden wollten. Bei entsprechenden Anlässen zogen sie sich zurück, sprachen oft tagelang nicht miteinander. Die Schwestern wurden bei jedem Zank ermahnt, ihn »sofort« einzustellen. Außer Kontaktabbruch und Liebesentzug boten die Eltern ihren Kindern aber keine konstruktiven Möglichkeiten zu Konfliktlösungen an. So hatten sich auch bei ihnen genau die Muster durchgesetzt, die ihnen in der Kindheit aufgezwungen wurden. Konflikte zwischen ihnen stauten sich an, weil sie nicht rechtzeitig angesprochen und ausgetragen werden konnten, sondern stattdessen in Gekränktheit, Rückzug und Schweigen einmündeten. Ingrid erkannte in der Gruppe, dass es genau diese
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