Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
nur vernünftig ist und bleibt, wenn sie ihre Grenzen erkennt. Keiner hat das überzeugender vorgeführt als Karl Valentin, dessen Komik Kurt Tucholsky einmal als einen »Höllentanz der Vernunft« bezeichnet hat. 104
Was dem einen ein Höllentanz ist, kann sich für den anderen wie das Klopfen an der Himmelpforte anhören. Selbst im Mittelalter mit seiner von der Kirche verordneten Leibfeindlichkeit und seinen mönchischen Lachverboten galt der Narr im einfachen Volk und zuweilen auch unter Theologen als eine Figur, die mit dem Heiligen verwandt war. Mystiker wie Meister Eckhart, Heinrich Seuse oder Theresa von Avila vertraten, wie später auch Martin Luther, die Meinung, dass das Lachen an das Heilige rühren könne, indem es den Blick auf das Unverfügbare lenke und so die Grenzen der Vernunft vor Augen führe. Der junge Theologe Friedrich Schleiermacher hat in seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens die Ironie als das Mittel gepriesen, das es Menschen ermöglicht, einander nahezukommen, ohne sich zu vereinnahmen, einander in geistreicher Rede und Widerrede zu begegnen, ohne einander die jeweils eigene Überzeugung aufzunötigen. Angesichts des Absoluten, so hatte schon Schleiermachers Freund Friedrich Schlegel versichert, sei allein die ironische Rede angemessen, weil jede apodiktische Behauptung notwendig meilenweit hinter der Komplexität des Ganzen und Umgreifenden zurückbleiben
müsse – eine Auffassung, die sich in den Texten vieler Mystiker aller Religionen finden lässt.
Freilich konnte und kann die lachende Vernunft ohne jede religiöse Weihe auskommen. Wie Dorothee Kimmich in ihrer fakten- und gedankenreichen Studie über Epikureische Aufklärungen dargelegt hat, sind es die Schrecken des religiösen Dogmatismus und der Sektiererei selbst, die die lange nur im Untergrund fortexistierende Strömung eines lebenszugewandten Denkens zu Zeiten von Erasmus und Morus und im Aufklärungszeitalter wieder hervortreten lassen – nicht als hektische, oft von Angst getriebene Hatz nach dem Amüsement, sondern als gelassene Bejahung der condition humaine. Was diesen Denkstil nach Kimmich auszeichnet, ist, dass er »Erkenntnisskepsis einerseits und Zuversichtlichkeit, was die Machbarkeit des Glücks angeht, andererseits«, miteinander verbindet. Vielleicht wäre der Welt und den Menschen tatsächlich am besten gedient, wenn dieser epikuräische Geist heute die politische Pragmatik belebte, wenn wir lachend den Schleier der Scheinrationalität zerrissen, den eine weltentrückte und lebensfeindliche ökonomistische Theorie über die Realität gebreitet hat, und die Suche nach dem Glück wieder in die eigenen Hände nähmen.
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