Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
danach kann er mit seinem Leben machen, was er will, hatte Werner erklärt, und sie war in regelmäßigen Abständen zu ihrem Vater geflogen. Kurt rief sie an, bestellte sie zu sich, und sie nahm die nächste Maschine nach New York. Es war simpel und verlässlich gewesen, zumindest hatte sie das geglaubt. Zunächst besuchte sie ihn nach Absprache mit ihrem Onkel, eine Allianz, die sie ihrem Vater gegenüber verschwieg, doch nach jeder Reise hatte sie Werner weniger erzählt, bis sie ihre Berichte schließlich ganz unterließ. Sie sah die Verwandlung ihres Vaters, vom Unternehmer zu einem Mann, der kaum mehr als ein Obdachloser war, blass und schäbig, zuletzt verwahrlost, sie traf seine Freundin, Fanny, und sie nahm all das auf sich, weil sie nicht akzeptierte, dass ihr Vater ihr vollständig abhandenkam. Und als sie verstand, dass sie nie genug von ihm besessen hatte, um ihn zu verlieren, dass ihr Vater sich ihr nur zeitweise angenähert hatte, solange sie ihm eben nützlich war, die alte Art der Tietjens, die Kurt seinem Vater und seinem Großvater vorgeworfen hatte – als Luise das einsah, obwohl sie es nie hatte einsehen wollen, reiste sie umso entschiedener zu ihm, weil sie wiederaufzubauen beschlossen hatte, was dieser Mensch ihr über Jahre nahm.
Und dann hatte er sie nicht mehr bestellt. Damit war der letzte Faden gerissen, der ihren Vater mit der Familie verband. Das war im August gewesen. Nachdem sie über acht Wochen auf eine Nachricht von ihm gewartet hatte, hatte sie Anfang Oktober ihrerseits versucht, ihn zu erreichen. Der Brief, den sie an sein Postfach schickte, blieb unbeantwortet. Unter der neuen Adresse, die Kurt ihr in seiner letzten Nachricht mitgeteilt hatte, war kein Telefonanschluss auf seinen Namen angemeldet. Als sie bei der Dame in der Auskunftszentrale insistierte, wurde ihr mitgeteilt, dass es nicht einmal die Adresse gab.
Fanny ließ sich leichter ausfindig machen. Sie wohnte in dem Wohnblock, in dem auch Kurt einige Zeit gelebt hatte. Luise hatte Fannys Telefonnummer ermittelt und sie beim dritten Versuch erreicht. Doch es half Luise wenig. Nein, auch sie wisse nicht, wohin Kurt gezogen sei, erklärte Fanny, das Letzte, was sie von ihm gesehen habe, sei ein Haufen Gerümpel gewesen, den er in seiner Wohnung zurückgelassen hatte, und sie sei vom Hausmeister dafür zur Rechenschaft gezogen worden. Nein, wiederholte Fanny, sie habe von Kurt nichts mehr gehört, und dass die Adresse, die er der Hausverwaltung für Nachzahlungen hinterlassen habe, falsch sei, habe sie schon vom Hausmeister erfahren. Nun reiche es ihr, nun wolle sie sich nicht noch einmal für etwas rechtfertigen müssen, was nicht ihre Angelegenheit sei. Kurt Tietjen sei für sich selbst verantwortlich, sie seien getrennte Leute, discharged, wie Fanny sich ausdrückte.
Luise schrieb erneut an Kurts Postfach. Zwar war sie weniger gereizt als vielmehr verletzt, aber das hätte sie ihm gegenüber nie zugegeben. Er hätte sie, das zumindest glaubte Luise, fallengelassen, unwiderruflich, wie er ja auch sein restliches Leben einfach fallengelassen hatte.
Der dritte Brief, besorgt. Schließlich war Kurt nicht mehr jung, und schließlich kannte er, wie Luise vermutete, niemanden in seiner neuen Nachbarschaft. Vielleicht konnte er, wenn es tatsächlich schlecht oder noch schlechter um ihn stand, gar nicht antworten. Sie überlegte, nach New York zu fliegen, einen weiteren Brief zu schreiben erschien ihr zwecklos. Irgendjemand redete es ihr aus, irgendjemand wollte Kurt gesehen haben, wie er an der Südspitze Manhattans Eichhörnchen fütterte, was dort, wie Luise glaubte, verboten war.
Der vierte Brief, unbeschwert. Als hätte es die vorhergehenden drei Briefe nicht gegeben, erkundigte sie sich nach seinen Spaziergängen in Manhattan. Der fünfte Brief schrieb sich wie von selbst, denn es war Weihnachten. Im sechsten Brief versuchte sie ihn zu provozieren und im siebten fingierte sie eine wichtige Entscheidung, die in Essen anstünde. Auf diesen endlich erhielt sie Antwort, aber Kurt bezog sich nicht auf das, was sie geschrieben hatte. Es war eine Mitteilung darüber, dass sie nach New York zu kommen habe, und zwar unverzüglich. Es war jene von ihr seit langem gefürchtete Nachricht eines Unglücksfalls; Luise hatte sie erwartet, aber sie hatte nicht erwartet, dass der Moment, in dem sie einträfe, jemals kam.
Luise Tietjen glich die Hausnummer mit der Adresse ab, die sie in der unruhigen Schrift ihres Vaters bei sich
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