Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Roman (German Edition)
wirtschaftliche Lage der Firma erzählte, stimmte selten mit den Tatsachen überein, und wenn, dann nur teilweise, seine Pläne, seine Prognosen, seine Meinungen zielten, ob mit Absicht oder aus Unwissenheit, stets treffsicher auf einen Nachteil für die Firma ab, und Luise konnte nicht sagen, ob ihr Vater in ihr eine Verbündete sah oder das Trojanische Pferd, mit dem er hinterrücks in den heimischen Betrieb einfallen wollte.
Erst im kachelförmig geordneten Inneren Manhattans, langsam gegen die Schneemengen ansteuernd, dachte Luise daran, dass sie ihren Vater diesmal in Brooklyn treffen würde. Die halbe Stunde, die das Taxi mit Hupen und Halten zwischen den Wohnhäusern der 20th West und dem Midtown Tunnel verlor, könnte die halbe Stunde sein, die sie zu spät kam, dachte Luise. Weil sie es nicht ertrug, hinaus in den blockierten Verkehr zu blicken, starrte sie auf den Bildschirm vor ihr, auf dem ein Werbefilm für eines der überteuerten Restaurants in Soho gezeigt wurde.
Natürlich könne er sie direkt vor die Haustür fahren, sagte der Taxifahrer. Wenn sie den ganzen Nachmittag in diesem Taxi festsitzen wolle. Er ließ Luise zwei Straßen von der Wohnung entfernt aussteigen. Der Schnee hatte die Stadt in eine Taubheit versetzt. Räumfahrzeuge schoben die weißen Massen zu Wällen längs der Fahrbahn auf. Das war Brooklyn an diesem Nachmittag: Die Geschwindigkeiten waren abgesackt, die Autos fuhren fast geräuschlos und im Schlittentempo durch die Straßen. Post kam verspätet an, wenn überhaupt, so wie Luise heute verspätet angekommen war.
New York. Die Stadt, in die Kurt, ihr Vater, sich vor zweieinhalb Jahren geflüchtet hatte, als könnte man je flüchten, man konnte nur weggehen. Sie überquerte die Straße, die in einem schäbigen Streifen Brooklyns lag. Rostig heruntergelassene Metallrollläden, Linen Store, Bed Bath Gifts (Store for rent). Die Hochhäuser, Sozialwohnungen, die seit Jahrzehnten verwahrlosten. Domino’s Pizza. Ein Grocery. Beauty Supply. Die Immobilienfirma Dimokritos Properties warb an einem Wellblechzaun. Call Patrick Cohen, Sales Agent. Das Wort sold war auf den Zaun gesprüht, unklar, worauf es sich bezog. Die Fenster des Nachbarhauses waren mit Pappe abgedichtet, der Müll sackte durch die Kälte in den offenen Tonnen ein. Frauen mit violett geschminkten Lidern folgten Luise mit ihren Blicken, Luise sah ihre mit dem Glätteisen gebändigten Frisuren, die nach verbranntem Haar riechen mussten. Anwohner prophezeiten Wetterkatastrophen von den Balkonen herab, weiteren Schneefall, Blitzeis, einen Hurrikan. Und die U-Bahn wird auch nicht fahren! Sie fährt nie bei dieser Kälte!
Drei Jugendliche liefen, einen Basketball zwischen sich hin und her werfend, an Luise vorbei, musterten sie, und Luise fiel, wie sie sich auch bewegte, ob sie den Blick senkte oder hob, zwischen ihnen auf.
Weshalb Kurt gerade dieses Viertel ausgesucht hatte, fragte sie sich, ein Viertel, in das er nicht hineingehörte, wie jeder, nicht zuletzt der Makler, gesehen haben musste. Es passte noch weniger zu Kurt als sein vorheriger Wohnort, der in einer Arbeitergegend gelegen hatte. Ob er sich womöglich verkleidet hatte, um die Wohnung zu bekommen oder einen Bekannten vorgeschickt, es war Luise umso schleierhafter, da sie nun selbst in dieser Straße stand und begriff, wie wenig sie hierhergehörte, wie wenig ihr Vater hierhergehört hatte, ein Eindringling, der hier suchte, was ihm nicht zustand, nämlich seine Ruhe, die in Wahrheit die Unruhe der anderen war.
Von dieser Wohnung aus, in die er fünf Monate zuvor, im August 2011, eingezogen war, hatte Kurt endgültig kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben, ein Spiel, das er zwei Jahre zuvor begonnen, aus dem er seine Tochter aber bislang herausgehalten hatte. Seit August war sie von dieser Sonderstellung vertrieben und stand ebenso wie ihr Onkel Werner, ihre Mutter und überhaupt jeder aus Kurt Tietjens altem Leben mitten in den Zügen einer Partie, in der sie alle ein Phantom jagten, das als Geschäftsführer der Firma Tietjen fungierte, sich aber seit Jahren nicht mehr um die Geschäfte gekümmert hatte, sondern die Firma vor sich hin siechen ließ.
Luise war seit seinem amerikanischen Rückzug die einzige Verbindung zu Kurt Tietjen gewesen. Werner hatte sie damals beauftragt, ihren Vater aus seinem Exil zurückzuholen – und wenn nicht zurückzuholen, dann zumindest ausfindig zu machen. Eine Unterschrift, das ist alles, was wir von ihm brauchen,
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