Gesetze der Lust
geringsten Hinweis auf die Frau gab, zu der Nora inzwischen geworden war. Sie hatte der schützenden Nähe ihrer Mutter den Rücken gekehrt und warin die Stadt zurückgefahren, in die Welt, von der ihre Mutter immer gehofft hatte, dass ihre Tochter sie eines Tages endgültig hinter sich lassen würde.
Jeans. Schlichte Jeans. Und eine weiße Bluse, die bis zu einem respektablen Punkt zugeknöpft war. Stiefel mit flachem Absatz. Haare zum Zopf. Beinahe kein Make-up. Das war sicher gut genug, zahm genug, Vanilla genug für ihre Mutter.
Nora stieg in ihren BMW und verließ mit halsbrecherischem Tempo das Grundstück. Sie wollte diese Strafe so schnell wie möglich hinter sich bringen. Hier nach Guilford zu kommen, das so nah am neuen Zuhause ihrer Mutter lag, war ein Fehler gewesen. Sie hätte wissen müssen, dass Søren ihr irgendwann befehlen würde, sie zu besuchen.
Einst waren sie Freunde gewesen – Søren und ihre Mom. Als Nora noch ein verwirrter Teenager gewesen war, den jeder Elle oder Ellie nannte, hatten der heilige Father Stearns und ihre Mutter ein oder zwei Mal zusammen daran gearbeitet, ihre wilde Seite zu zähmen. Natürlich hatten sich Sørens Methoden als weitaus effektiver erwiesen als die Einschüchterungsversuche und die Geringschätzung ihrer Mutter. Ihre Mutter fand, dass Nora zu viel von ihrem verkommenen Vater an sich hatte. Es war ein Wunder, dass ihre Mutter sie damals tatsächlich bei sich aufgenommen hatte, als Nora vor ihrer Tür stand, immer noch geschüttelt von den durch die Tabletten verursachten Krämpfen und dem Schock darüber, von dem einzigen Mann weggelaufen zu sein, den sie je geliebt hatte.
Aber sie hatte es getan, ihr ein Dach über dem Kopf geboten, dafür gekämpft, sie bei sich zu behalten, als die anderen infrage stellten, ob Nora hier überhaupt hingehörte.
„Sie hat ihren Liebhaber verlassen“, erzählte ihre Mutter den anderen, die sie loswerden wollten. „Er wird nicht kommen und sie holen. Das kann er nicht. Er hat sie körperlich missbraucht.“
Obwohl es Nora den Magen umdrehte, ihre Mutter diese Lüge erzählen zu hören, betete sie, dass die anderen Mitleid mit ihr hätten und sie bleiben ließen. Und das taten sie schließlichauch. Nora hatte ein eigenes Zimmer bekommen, eigene Aufgaben und den Befehl, ihren Kopf unten zu halten und keinen Ärger zu machen. Das mit dem Ärger hatte nicht funktioniert. Sie konnte nicht anders. Es lag in ihrer Natur. In der Einsamkeit dieses Hauses hatte sie angefangen, eine Geschichte über ein Mädchen zu schreiben, das von einem Mann davonrennt. Nora sah das Mädchen vor ihrem inneren Auge, sah es durch die Bäume laufen, sah es sich alle paar Sekunden umdrehen, um zu sehen, wer ihm folgte. Und Nora hatte diesem Mädchen in Gedanken zugeflüstert: „Lauf nicht davon. Er ist der Einzige, vor dem du keine Angst haben musst …“ Und mit diesem einen Satz, dieser einen Idee, war ihr erstes Buch entstanden. Die Ausreißerin .
Alleine wegen dieses Buches, das ihr Leben verändert hatte, würde sie immer dankbar sein für diesen ein Jahr andauernden Schwebezustand in dem neuen Zuhause ihrer Mutter. Søren hatte einmal gesagt, das Buch wäre ihr Weg gewesen, sich aus der Hölle herauszuschreiben. Aber in dem Haus zu sein war nicht die Hölle. Hölle war, Søren verlassen zu haben. Hölle war, sich von ihm fernzuhalten. Hinter dem Tor, durch das Nora fuhr … da war nur das Fegefeuer. Und in dieses Fegefeuer kehrte sie jetzt zurück.
Die Hölle war die Strafe für Sünden. Das Fegefeuer brannte sie hinweg. Aber sie mochte ihre Sünden. Egal wie sehr sie schmerzten.
Nora stellte den Wagen ab und ging in Richtung Haupthaus. Sie suchte die Klingel an dem schmiedeeisernen Tor und drückte darauf.
„Ja, Kind?“, ertönte eine schwache Stimme.
„Guten Tag, ich bin Eleanor Schreiber.“ Nora wartete, ob die uralte Frau sich an sie erinnerte.
Die Dame lächelte und nickte.
„Ich werde sie für dich suchen.“
„Danke“, sagte Nora, ohne Dankbarkeit zu empfinden.
Sie hörte das Geräusch des über den Boden streifenden Stoffes, während die Frau den Flur hinunterschlurfte. Ein paar Minutenspäter erklangen schnellere Schritte. Eine Tür öffnete sich, und zwei Frauen traten heraus – eine in den Achtzigern und eine Mitte fünfzig.
„Schwester Mary John, hier ist Ihre Besucherin.“
Die Frau in den Fünfzigern seufzte schwer.
„Elle? Was tust du hier?“
„Hallo, Mom.“
Als Michael aufwachte, hatten sich die
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