Gesetze der Lust
gar nicht existiert. An diesem Tag hatte sie aus keinem besonderen Grund die Schule geschwänzt – außer dem, dass der Sonnenschein sie zu rufen schien und sie das Gefühl hatte, sich an dem Azeton im Hausmeisterschrank vergehen zu müssen, wenn sie bis zum Ende der Chemiestunde bleiben würde. Auf ihrem Streifzug durch das Wäldchen hinter ihrer Kirche war sie auf Søren gestoßen, der in seinem Garten arbeitete. Noch nie hatte sie ihn in etwas anderem als in seinen Messgewändern oder seinem Priesterornat gesehen. Aber an dem Tag trug er Jeans und ein weißes T-Shirt. Selbst unter seiner üblichen Kleidung konnte man erkennen, dass er gut gebaut war, aber jetzt sah sie zum ersten Mal seine sehnigen Arme, den festen Bizeps und den kräftigen Hals ohne den Priesterkragen. Seine Hände waren schmutzbedeckt, denn er grub mit beeindruckender Energie Löcher in die Erde, in die er dann jeweils drei oder vier Setzlinge steckte. In der weltlichen Kleidung und mit der Sonnenbrille, der Aprilsonne, die helle Strähnen in sein blondes Haar zauberte, wirkte der Priester wie ein Wesen von übermenschlicher Schönheit. Bei seinem Anblick spannten sich alle Muskeln in ihrem Unterleib an.
„Eleanor, du solltest in der Schule sein.“ Er schaute nicht einmal von seiner Arbeit auf, sondern blieb weiter auf der Erde knien und bedeckte die Wurzeln der Setzlinge mit schwarzer Erde.
„Es war eine Entscheidung um Leben und Tod. Wenn ich in der Schule geblieben wäre, hätte ich mich umgebracht.“
„Da Selbstmord eine Todsünde ist, erteile ich dir für dasSchuleschwänzen Absolution. Aber du weißt, dass du außerdem nicht hier am Pfarrhaus sein solltest.“ Er klang weder verärgert noch enttäuscht, nur leicht von ihr amüsiert, wie immer.
„Ich stehe außerhalb des Zauns, also bin ich nicht am Pfarrhaus, sondern nur in der Nähe. Was tun Sie da?“
„Ich pflanze Bäume.“
„Das sehe ich. Aber warum? Reichen Ihnen die zwei Millionen Bäume um uns herum nicht?“
„Nicht ganz. Man kann das Pfarrhaus von der Kirche aus immer noch sehen.“
„Ist das schlimm?“
Søren stand auf und kam zu ihr an den Zaun. Nora erinnerte sich, wie laut ihr Herz in dem Moment geschlagen hatte. Sie war sich sicher, er müsse es auch hören.
Nur durch einen Zaun und einen Altersunterschied von vierzehn Jahren voneinander getrennt, nahm Søren seine Sonnenbrille ab und schaute ihr in die Augen.
„Ich mag meine Privatsphäre.“ Er schenkte ihr ein verschwörerisches Lächeln.
„Es wird noch Jahre dauern, bevor Sie die kriegen.“ Søren schaute sie mit erhobener Augenbraue an, und Nora errötete. „Ihre Privatsphäre, meine ich. Bäume brauchen ewig zum Wachsen.“
„Diese nicht. Kaiserbäume und diese besondere Art der Weiden gehören zu den am schnellsten wachsenden Sorten.“
„Sie haben es wohl eilig, Ihre Privatsphäre zu sichern.“
„Ich kann es kaum erwarten.“
Irgendetwas in seinen Augen und seiner Stimme verriet ihr, dass sie nicht mehr über die Bäume sprachen. Ich kann es kaum erwarten , hatte er gesagt und sie auf so intime Weise angeschaut, dass es sich anfühlte, als würde er sie berühren.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und erwiderte den Blick.
„Ich auch nicht.“
Nora schüttelte die Erinnerung ab und betrat das Pfarrhausdurch die Hintertür. In der Stille des Abends war das einzige Geräusch das ihrer Schritte auf dem Holzfußboden. Dieses Geräusch würde sie den Sommer über vermissen. Genau wie das Haus und den Priester, der hier wohnte. Heute war ihre letzte gemeinsame Nacht, bis der Sommer vorbei war und sich die Aufregung um die Nachfolge von Bischof Leo gelegt hatte. Erst dann würden sie und Søren wieder zu ihrer ganz persönlichen Version eines normalen Lebens zurückkehren können.
Aber nur, wenn er nicht auserwählt würde, den Bischof zu ersetzen. Bitte, Gott , betete sie, bitte, wähle nicht ihn .
Nora durchquerte die Küche und sah eine einzelne brennende Kerze auf dem Tisch stehen. Direkt daneben lag eine kleine weiße Karte, auf der mit Sørens eleganter Handschrift geschrieben stand: Nimm zuerst ein Bad. Dann komm zu mir .
Sie nahm die Karte an einer Ecke und hielt sie in die Flamme, die Sørens Worte verschlang. Dann blies sie das kleine Feuer aus, als es gerade ihre Finger erreichte, und spülte die Asche im Spülbecken davon. Wie beinahe alle Pfarrer hatte auch Søren eine Haushälterin, die sich um alle seine häuslichen Bedürfnisse kümmerte. Nora war sehr dankbar für
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