Gesichter im Nebel (German Edition)
einer goldenen Kette um den Hals trug. Es zeigte verschlungenes Blattwerk in dessen Mitte ein grüner Stein glänzte; ein Geschenk des Vaters zum achtzehnten Geburtstag. Brighid trug es als Amulett gegen die Kräfte des Bösen und zum Schutz vor Krankheiten.
Das seltene Stück, die Einzelanfertigung eines verschrobenen Dubliner Goldschmieds, fand immer wieder neue Bewunderer. Es erinnerte an alte Schmuckfunde in Gräbern keltischer, hochgestellter Damen. Brighid war mächtig stolz auf das Unikat.
So mancher junge Mann in der Stadt hatte sich bereits in die auffallende Schönheit verguckt, wenn sie hoch erhobenen Hauptes mit wiegenden Hüften über die O’Connell-Brücke zur ehrwürdigen City-University von Dublin schlenderte. Doch alle bissen auf Basalt.
Sean und Brighid hingen sehr aneinander. Brighids Mutter, eine große und stämmige Frau, war schon vor vielen Jahren bei einem tragischen Schiffsunglück ums Leben gekommen, als sie auf dem Weg zu einem Verwandschaftsbesuch an Englands Westküste war. Was Sean und Fiona, zwei von körperlicher Statur so unterschiedliche Menschen, einst zusammengeführt hatte, blieb vielen seiner Kollegen, die ebenfalls hinter der ehemaligen Sekretärin des Museumsdirektors her waren, ein Rätsel. Es bestand jedoch kein Zweifel: Es war eine große und aufrichtige Liebe. Die Materie, mit der er von Berufs wegen umging, war ihr schließlich vertraut. Vielleicht war es die visionäre Kraft des unscheinbaren Männchens, die sie anzog. Und Sean hatte nach ihrem Tod keinen einzigen Gedanken darauf verschwendet, je wieder zu heiraten. Er trauerte noch immer um Fiona und spürte fast täglich die Leere, die sie hinterließ. Zum Glück hatte er seine Tochter, das Einzige, was ihm von seiner Leidenschaft geblieben war.
Brighid selbst besaß kaum Erinnerungen an ihre Mama, sie war zur Zeit des Unglücks zu klein gewesen. Ein gerahmtes Bild auf dem Schreibtisch ihres Vaters zeigte eine rotblonde Frau mit energischen Gesichtszügen. Ansonsten existierten noch einige zum Teil angegilbte Fotos in einem Schuhkarton auf einem der Regale in Seans Arbeitsstube. Manchmal nahm sie die Schachtel an sich und studierte die Bilder, die bis zu den Großeltern zurückreichten, so als suchte sie nach einer Antwort auf die Frage ihrer Herkunft.
Bisweilen nämlich geisterten Szenen durch ihre Träume, die aus einer anderen, ihr unbekannten Welt zu stammen schienen. Da hörte sie nächtens ein gewaltiges Meeresrauschen, nicht wie in der Bucht von Dublin oder an den Oststränden der Insel zur Irischen See hin. Nein, es war eher wie das Donnern der mächtigen Brandung an der zerklüfteten, atlantischen Westküste. Einmal war sie mit einem Schulausflug dort gewesen, an den hohen, senkrecht abstürzenden „Cliffs of Mohair“ und später noch einmal bei einem Sängerfest in Doolen am sogenannten Fisherpoint. Und sie fühlte sich in dieser wilden Szenerie merkwürdig zuhause. Deshalb wuchs mit jedem Jahr die Gewissheit, irgendwo von dieser Seite der irischen Insel zu stammen. Immer wieder geisterten wie ein Film im Zeitraffer Episoden vom Meer durch ihre nächtlichen Gesichte: Wilde, schnauzbärtige Kerle in einfachen Booten auf bewegter See, Klippen, hohe Felswände, sie dazwischen. Manchmal kenterte das Boot, sie schmeckte salziges Wasser, Höllenängste quälten sie und sie wachte schweißgebadet mitten in der Nacht auf. Ihr Vater konnte auf entsprechende Fragen keine Antwort geben. Er erinnerte sich nur dunkel daran, dass bei Mutters Großeltern einmal die Rede von einer Fischerfamilie aus Galway war.
Brighid betrat das Studierzimmer ihres Vaters und brachte ihm seinen obligatorischen Nachmittagstee in einer großen Porzellankanne auf einem im Jugendstil gehaltenen Messingtablett, zusammen mit etwas Gebäck. Und natürlich musste der Papa dazu wieder seine tägliche Zigarre paffen. Er bewahrte das Rauchwerk in einem Humidor aus Zedernholz auf, der einzige Luxus, den er sich gönnte.
„Na, Daddy“, fragte sie leichthin, „bist du wieder am Sinnieren?“
„Du hast es erraten“, erwiderte er schmunzelnd, „ich stelle mir gerade vor, ich würde endlich von einer Ausgrabung hören, die etwas mehr Licht in unsere Geschichte bringt. Vor allem erstaunt mich immer wieder, wie diese keltischen Kerle selbst die kleinsten Inseln besiedelt haben und wovon sie sich dort ernährten. Am meisten wundert mich, dass lange Jahre auf ‚Skellig Mikel’ Mönche gehaust haben. Ich verstehe schon nicht, wie sie dort
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