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Gesichter im Nebel (German Edition)

Gesichter im Nebel (German Edition)

Titel: Gesichter im Nebel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Feyerabend
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Gelehrter. In einem gewissen Sinn war er das sogar. Sean galt unter Eingeweihten als fundierter Kenner der keltischen Frühgeschichte Irlands und der Ausbreitung dieses noch heute rätselhaften Volkes über fast ganz Europa. Er war Autor zweier populärer Werke über diese bewegte Epoche und arbeitete an einer mit Spannung vor allem bei Frauenverbänden erwarteten Schrift über die gälischen Frauen der Frühzeit und ihre Stellung in der Gesellschaft. Mr. Walsh war Historiker. Bis zu seinem Ruhestand hatte er das Archiv des irischen Nationalmuseums in Dublin geführt.
    Wenn Walsh in seinem altväterlichen Studierzimmer am Schreibtisch saß, einem einfachen, kräftigen Bohlentisch aus Eiche, und über den Gezeiten abhängigen Wasserlauf des Liffey blickte, so konnte er sich gut vorstellen, wie es hier ein Jahrtausend früher ausgesehen hatte. Vor seinem geistigen Auge zogen klobige Wagen mit Holzscheiben als Räder vorüber, beladen mit allerlei Handelsgütern. Er hörte das Rumpeln ihrer eisenbeschlagenen Räder, die kehligen Rufe der Fuhrknechte, sah stolze Krieger vorbeiziehen mit ihren spitzen Helmen, manchmal mit Hörnern verziert, die kurzen Schwerter in üppig verzierten Scheiden, an den Sätteln die Schilde, mit bunten Ornamenten geschmückt – bärtige Kerle, das Haupthaar zu einem Knoten im Nacken gedreht. Langhaarige, meist flachsblonde Frauen balancierten gut verschnürte Bündel auf dem Kopf oder hatten Tragesäcke aus Rindshaut umgehängt. Die stämmigen Frauen waren in mit allerlei verschlungenen Mustern geschmückte sackartige und härene Kleider gehüllt. Walsh erblickte bedächtig dahin schreitende heilige Männer, die Druiden mit ihren Sicheln zum Schneiden der wundertätigen Misteln und er sah Barden, ihre unvermeidliche Leier an einem Band über die Schulter geworfen. Er erblickte in seinen Visionen das Aufspritzen des Wassers, wenn die Schaf- oder Rinderherden bei Niedrigwasser durch die Furt des mäandernden Flusses getrieben wurden. Aus den einfachen strohgedeckten Rundhütten am Ufer stieg der Rauch der Torffeuer auf, in einer primitiven Gaststätte wurde Met ausgeschenkt und so manches Mal artete die Runde der wehrhaften Männer in ein fröhliches Besäufnis aus. Eine ganze Epoche stand so in seinen Tagträumen vor ihm auf, ein Zeitabschnitt europäischer Frühgeschichte, den er zu seinem Leidwesen noch immer nicht ganz ergründet hatte.
    Wo kamen sie her, diese Männer, die die Römer später als kriegerische Saufbolde beschrieben? Warum übten sie den grausigen Brauch aus, Menschen zu opfern und aus dem Zucken ihrer Glieder bei ihrer Erdolchung an den heiligen Stätten und aus dem Fließen ihres Blutes die Zukunft zu weissagen? Warum spießten sie die Köpfe erschlagener Feinde auf Pfähle oder nagelten sie gar an ihre Hütten und Zäune, ja balsamierten einmal sogar ein ganzes, besiegtes Heer ein und stellten das grausige Spektakel auf einem Podium zur Schau?
    Fragen über Fragen.
    Und auch er, so wurde sich der alte Mann schmerzlich bewusst, würde sie letztlich nicht beantworten können; erst recht nicht die vielen Rätsel der vorkeltischen Geschichte lösen.
    Seit vielen Jahren wohnte der Privatgelehrte nun schon am Ufer des Liffey, also gewissermaßen in standesgemäßer Umgebung, zusammen mit seiner Tochter Brighid, einer berückenden, ganz eigenen Schönheit von noch nicht einmal zwanzig Jahren.
    Ihr langes, rotgolden schimmerndes Haar fasste sie in einem geflochtenen Zopf zusammen, der bis zu den Hüften reichte. Öffnete sie die Pracht, so fiel der Kopfschmuck wie ein Mantel in die Kniekehlen. Ihre Mähne war kräftig und nicht, wie bei vielen Rotblonden, dünn und splissig. Das kündete von einer ungewöhnlichen Lebenskraft. Die hochgewachsene Brighid sah ganz so aus, wie sich Maler in zahlreichen Stichen und Radierungen die keltische Idealfrau vorstellten. Sie hätte in der Tat einem dieser Gemälde entsprungen sein können und ihr stolzer Gang und ihre Gesten zeigten, dass sie sich dieser Wirkung wohl bewusst war. Ihre schimmernden, grünen Augen hatten etwas Smaragdenes und Unergründliches an sich. Kaum einer konnte ihrem festen Blick standhalten. Dabei war Brighid alles andere als eine zarte, gertenschlanke junge Dame, nein, eher stämmig, mit breiten, wiegenden Hüften, strammen Waden, dennoch in ihren Proportionen wohlgewachsen und mit atemberaubenden, schwellenden Brüsten ausgestattet.
    Zog sie ein ausgeschnittenes Kleid an, so kam ein Medaillon zum Vorschein, das sie an

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