Gesichter im Nebel (German Edition)
überhaupt anlanden konnten, so rau ist die Brandung und so steil die Küste. Es wächst auch praktisch nichts auf dieser winzigen Felsspitze im Meer. Und doch haben diese Burschen da einige Nutzpflanzen mühsam zwischen Schutzmäuerchen kultiviert und von den Klippen aus gefischt, die bei den heftigen Atlantikstürmen dieser Gegend von mächtigen Brechern überrollt werden. Ich glaube vor lauter Hunger sind sie manchmal nachts kaum in den Schlaf gekommen. Ein hoher Preis für ein gottgefälliges Leben, nicht wahr?“
„Weil du gerade Insel sagst: Ich will in den Semesterferien mit ein paar Kommilitonen nach Cape Clear im Süden fahren. Das soll ganz toll da sein, pure Natur und eigenbrötlerische Leute, die fast alle nur Gälisch sprechen.“
„Ja“, erwiderte er, „ich habe davon gehört. Ich selbst war nie da, nur auf den Aaron-Islands, wo sie auch noch Gälisch sprechen. Wann soll’s denn losgehen? Es wird ganz schön einsam hier ohne dich!“
„Nächste Woche. Wir haben uns ganz spontan dazu entschlossen. Der Bruder von Mike war letztes Jahr dort und hat von der Insel so geschwärmt, dass er uns alle angesteckt hat.“
„Da sollen sie ja noch einen alten Schwörstein haben und vor allem fürs Heiraten benutzen. Du könntest mir ein Foto davon für meine Sammlung mitbringen und dich ein bisschen umhören. Magst du?“
„Klar Daddy, Ehrensache. Ich weiß ja, wie sehr dich so was interessiert.“
„Aber sei vorsichtig, Kleines, nicht, dass du plötzlich einen Ring am Finger hast!“
„Sicher nicht. Dazu ist die Zeit nicht reif. Und, wenn ich ganz ehrlich bin, ich fürchte, ich auch noch nicht!“ Sie lachte schelmisch. „Das hat Weile, erst einmal will ich mein Studium beenden. Und dann müsste auch noch der richtige Mann auftauchen. Das ist gar nicht so einfach. Die meisten Kerle sind mir zu mickrig oder zu vollgefressen, saufen zu viel oder sind mir zu dumm!“
„Na, du stellst ja gar keine Ansprüche!“
„Die Zeit wird’s zeigen. So, jetzt trink du erst mal deinen Tee. Er ist noch schön heiß. Ich gehe ein bisschen durch die Stadt, bummeln, es ist ein angenehm lauer, fast windstiller Tag heute.“
„Gut, pass auf dich auf und sei zum Abendbrot wieder zurück. Ich denke, wir sollten heute den neuen Schinken anschneiden, den ich neulich vom Land mitgebracht habe. Die meisten unserer Landsleute verstehen davon nichts. Und der scheint mir deshalb besonders lecker.“
„Au, fein. Ich freue mich darauf. Will mich nur noch schnell umziehen. Also bis dann.“
Und wie ein Wirbelwind war sie aus der Tür, während Sean sich den belebenden Tee einschenkte und vor dem ersten Schluck, schon wieder in seine Gedanken vertieft, zur Kühlung des Getränks über die dampfende Tasse pustete.
Ja, er musste sich wohl langsam damit abfinden, dass seine Tochter eines Tages ganz aus dem Haus ging. Sie war längst flügge und würde irgendwann eine eigene Familie gründen wollen. Dann musste er sich wohl oder übel nach einer Haushälterin umsehen. Ihm war gar nicht wohl bei dem Gedanken, eine fremde Person in seinen vier Wänden zu haben. Das Alter, so dachte er fast schwermütig, es brachte so manches mit sich, was man sich in jungen Jahren nicht träumen ließ – abgesehen von all den Zipperlein, die sich außerdem einstellten und einem das Leben erschwerten.
Unterdes bummelte Brighid, in einem langen, fließenden Rock und einer bunt bestickten Bluse durch die Straßen der irischen Hauptstadt, spähte interessiert in die Schaufenster der Modeläden, gönnte sich an einer Bude einen Hotdog, studierte Kino-Plakate und strebte langsam auf die O’Connell-Brücke zu. Auf der gegenüberliegenden Seite des Liffey war „O’Donohogues“, wo die berühmte Band „The Dubliners“ ihre Karriere begonnen hatte. Sie wollte sich ein verträumtes Pint gönnen, die Atmosphäre genießen und – so gerade ein paar sangesfrohe Zecher da waren – ein paar irische Lieder anhören, vom „Royal Canal“ vielleicht oder das schwermütige „My only son was shot in Dublin“. Und wenn gar jemand auf der Flöte den „Lonely Boatsman“ spielte erinnerte es sie an die „Cliffs of Moher“ und die dortigen Fischerboote, wenn die Männer bei ruhiger See ihre Netze auswarfen. Jedes Mal überkamen sie dabei heimatliche Gefühle. Es musste schon was dran sein an ihren Träumen.
Just beim Betreten der steinernen Brücke begegnete sie einem hochgewachsenen jungen Mann mit dunklen, wallenden Locken, einem feurigen Blick und
Weitere Kostenlose Bücher