Gesprengte Ketten
Der Spaziergang im Schlosspark und das Eis am Seerosenteich hatten ihr gut getan. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so beschwingt gefühlt, wie an diesem Vormittag. Sie schloss die Haustür auf und wollte gerade ihre Jacke an die Garderobe hängen, als ihre Mutter auch schon nach ihr rief. "Einen Moment, Mama", antwortete sie. "Ich bin gleich bei dir."
Gertrud Ravens saß in ihrem Sessel im Wohnzimmer, die Füße auf einem gepolsterten Hocker, und sah sich eine Talkshow an. "Wo bist denn so lange geblieben, Laura?", fragte sie mit ung eduldiger Stimme. "Solange kann dein Arztbesuch nicht gedauert haben."
"Anschließend habe ich einen Spaziergang im Schlosspark g emacht", antwortete Laura.
"Du musst ja viel Zeit haben", bemerkte ihre Mutter. "Wenn wir mal was von dir wollen, heißt es immer, ich habe keine Zeit."
Die junge Frau dachte nicht daran, auf die Vorwürfe ihrer Mutter einzugehen. "Ich bin in meinem Zimmer und ziehe mich um", sagte sie und wandte sich der Tür zu.
"Und danach kannst du mir die Fußnägel schneiden", verlangte Frau Ravens. "Mir kommt es vor, als würde der Nagel vom großen Zeh am rechten Fuß einwachsen."
"Ich werde dir morgen die Nägel schneiden, wenn du gebadet hast", schlug Laura vor. "Wenn ich mich umgezogen habe, muss ich mich erst einmal um das Mittagessen kümmern. Ich möchte fertig sein, wenn Charlotte aus der Schule kommt."
"Nein, Laura, solange kann ich nicht warten. Ich möchte nicht, dass sich mein Zeh entzündet", sagte Gertrud Ravens. "Du hättest eben nicht so trödeln dürfen." Sie griff nach der Fernsehzeitung. "Das Programm wird auch von Tag zu Tag langweil iger."
Laura spürte, wie ihre Kopfschmerzen zurückkehrten. Sie überlegte, ob sie darauf beharren sollte, ihrer Mutter erst am näc hsten Tag die Fußnägel zu schneiden. Die junge Frau war sich sicher, dass es noch Zeit hatte. - War es den Ärger wert? Sie würde den ganzen Tag zu hören bekommen, dass sie keine Zeit für die eigene Mutter hatte. "Gut, ich schneide dir in zehn Minuten die Nägel", sagte sie und ging hinaus.
"Warum nicht gleich so", murmelte Gertrud Ravens vor sich hin. Laura wusste gar nicht, wie gut sie es hatte. Als sie in ihrem Alter gewesen war, hatte sie in der Fabrik gearbeitet und nebenher noch die Abendschule besucht.
Um ein Uhr dreißig kam Charlotte nach Hause. Mit einem kurzen Gruß eilte sie zu ihrem Zimmer hinauf, warf die Schultasche aufs Bett und schaltete die Stereoanlage ein.
Laura schloss die Küchentür. Sie konnte diese laute Musik nicht ertragen und fragte sich, wie Charlotte sie aushielt. Wie oft hatte sie ihre Schwester gebeten, wenigstens Kopfhörer zu benu tzen. Darin war sie sich wenigstens mit ihren Eltern einig. Charlottes laute Musik ging ihnen auch auf die Nerven.
Vor dem Haus hielt ein Wagen. Ihr Vater stieg aus. Gleich da rauf öffnete sich die Haustür. "Charlotte!", schrie er. "Charlotte!" Laura hörte, wie er die Treppe hinaufstieg. Nur wenig später verstummte die Musik.
Die junge Frau deckte den Mittagstisch. Sie war kaum damit fertig, als ihre Schwester nach unten kam. "Hast du mein T-Shirt gewaschen, Laura?" Charlotte hob den Deckel der Suppenterrine. Sie rümpfte die Nase. "Auf Hühnersuppe habe ich heute nun wirklich keine Lust."
"Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt", erklärte Günther Ravens. "Als ich noch ein Kind war, hätten wir uns nach Hühnersuppe alle zehn Finger geleckt." Er rückte für seine Frau den Stuhl. "Sitzt du bequem, Gertrud?"
"Es geht", antwortete sie.
Laura schenkte die Suppe aus und ging in die Küche, um die Würstchen zu holen. "Ich habe dir heute Morgen schon gesagt, dass ich nicht zum Waschen komme, Charlotte", sagte sie, als sie zurückkehrte.
"Laura ist ziemlich spät nach Hause gekommen. Sie hat noch einen Spaziergang durch den Schlosspark gemacht", warf Gertrud Ravens ein.
"So gut möchte ich es auch haben", meinte Charlotte. "Unsereiner muss sich in der Schule mit Mathe plagen. Und Hausaufgaben habe ich auch noch jede Menge."
Nach dem Mittagessen brachte Laura die Küche in Ordnung. Ihre Eltern hatten sich zum Mittagsschlaf zurückgezogen. Cha rlotte war trotz der vielen Schularbeiten, die sie angeblich hatte, zu ihrer Freundin geradelt. Die junge Frau war froh darüber, so konnte sie sich wenigstens endlich ungestört an ihre eigene Arbeit machen. Erleichtert schloss sie die Tür des Arbeitszimmers hinter sich.
Trotz Kopfschmerzen und Müdigkeit kam Laura an diesem Nachmittag mit der Doktorarbeit,
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