Gestern fängt das Leben an
steht.
Megan!
«Meg!!!», kreische ich und ramme Jack den Ellbogen in die Seite, damit er mich vorbeilässt. «Meg! O Gott, wie schön, dich wiederzusehen!» Ich werfe ihr die Arme um den Hals und registriere, dass sie Jack aus dem Augenwinkel einen perplexen Blick zuwirft.
«Äh, Jill? Wir haben uns erst vor drei Tagen gesehen», sagt sie und löst sich aus der Umarmung, obwohl ich mich weiter an ihr festklammern will.
Stimmt ja, das ist richtig! Gott, wie ich dieses unabhängige Leben vermisst habe, jeden Abend unterwegs, ständig den Kitzel neuer, unerwarteter Möglichkeiten im Blut.
«Weiß ich doch», sage ich und bemühe mich um eine gefasste Stimme. «Aber du siehst so … Du strahlst irgendwie so.» Meg zieht die Augenbrauen zusammen, und meine Augen weiten sich vor Schreck. Mist! Habe ich mich jetzt verraten? Ich schiebe sie auf die Bank und lasse mich auf Jacks andere Seite plumpsen.
«Also …» Ich reibe mir die Hände. «Was ist los mit dir? Wie geht es dir? Wo ist Tyler? Ach, ich habe dich ja so vermisst!» Ich fasse über den Tisch nach ihren Händen, um sie zu berühren, und strahle sie an.
«Wirklich, Jill, was ist denn los? Langsam machst du mir Angst!»
«Wieso denn?», frage ich und stürze einen Riesenschluck Wasser hinunter. Ich bin plötzlich wie ausgedörrt.
«Also erstens: Du redest furchtbar schnell. Zweitens benimmstdu dich, als würden wir uns so gut wie nie sehen. Und drittens …?» Sie stockt. «Du siehst irgendwie anders aus. Warst du im Solarium oder so?»
«Genau!», ruft Jack. «Habe ich auch gesagt.»
«Nein, ich habe gar nichts gemacht.» Mein Puls rast, und ich hoffe, dass ich nicht wieder Ausschlag kriege, wie immer, wenn ich die Wahrheit ein wenig überstrapazieren muss. «Ihr beide seid doch lächerlich!» Aber ich höre selbst, dass meine Stimme viel zu laut ist und die Worte rausgeschossen kommen wie aus dem Schnellfeuergewehr.
«Das muss an den Medikamenten liegen», seufzt Jack.
In dem Augenblick betritt Tyler das Lokal. Ich springe auf ihn zu und werfe ihn mit meiner Umarmung beinahe um. Nach Megans Tod ist Tyler in einer Abwärtsspirale aus eisiger Leere versunken, als wäre Megan alle Farbe in seinem Leben gewesen und als gäbe es ohne sie nur noch weiß, schwarz und grau. Er betäubte den Schmerz mit Alkohol und zog sich immer mehr zurück in eine selbstquälerische Hülle aus Wut, in der keiner von uns mehr an ihn rankam und er auch nicht mehr erreicht werden wollte.
Und jetzt steht er hier vor mir, lebhaft und fröhlich, mit seinen roten Backen, den erdbeerroten Haaren und dem Bäuchlein, das Megan zärtlich streichelt, als sie uns schließlich die umwerfende Neuigkeit ihrer Schwangerschaft unterbreitet. «Bald bin ich dicker als er», erklärt sie stolz.
Ich versuche, überrascht zu tun, schlage einen freudestrahlenden Tonfall an und bestelle bei der Kellnerin eine Runde Sekt. «Aber nicht für sie», scherze ich und zeige auf Megan. Eifrig imitiere ich die Ausgelassenheit, die uns damals durchdrang, obwohl ich weiß, dass sie nur vonkurzer Dauer war. Viel zu kurz.
Aber warum nicht?,
denke ich.
Wieso dürfen wir diesen Augenblick nicht genießen und ihn so auskosten, wie er es verdient hat?
Sollen Megan und Tyler dieses Glück doch mit allen Poren genießen. Denn schon viel zu bald, in sechs kurzen Tagen, wenn plötzlich Krämpfe ihr Innerstes nach außen kehren, wird ihnen all das genommen. Und vier ebenso kurze Jahre später, wenn Megan am Steuer einschläft, wird ihnen das Glück endgültig weggerissen.
Also trinke ich, als gäbe es im wahrsten Sinne des Wortes kein Morgen, und bade mich in dem unglaublichen Gefühl, meine zweite Chance bekommen zu haben. Ich lasse die Hand unter den Tisch gleiten, verschränke meine Finger mit denen von Jack und versuche zu verdrängen, dass alles, was in der Zukunft geschieht, womöglich bereits vorgegeben ist. Dass wir womöglich wieder und wieder dieselben Fehler machen und dass meine Rückkehr vielleicht überhaupt keine zweite Chance ist.
***
Lange nachdem Jack neben mir in Tiefschlaf gefallen ist, starre ich an die Decke und lausche seinen sanften Atemzügen. Instinktiv fahre ich mit dem Daumen über meinen Ringfinger und erschrecke über seine Nacktheit. Mein Ring, das Symbol der Bindung mit Henry und meiner Familie, ist nicht mehr da, weg, wie alles andere, das meinem zukünftigen Ich gehört.
Die Autos unten auf der Straße werfen ihr Licht an die Wände. Wo Henry jetzt wohl ist? Unmöglich,
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