Gestern fängt das Leben an
Anmache. Mir war noch nicht mal aufgefallen, dass ich ihm aufgefallen war.
«Nein.» Ich schüttelte den Kopf und lächelte ihn an, strahlender und breiter als beabsichtigt, aber er hatte etwas an sich, das mir meine Zurückhaltung nahm. «Camping mag ich nicht so gerne.»
«Ich auch nicht.» Er zuckte die Achseln. «Camping meine ich. Aber ich war schon mal in den Tetons, in der elften
Klasse. Gehörte zu einem Trip in die Wildnis. Die Berge dort sind wunderschön. Aber schon damals habe ich festgestellt, dass Camping nicht so mein Ding ist.»
Wir grinsten uns an, als würden wir ein Geheimnis teilen, einen Insiderwitz, den nur wir beide verstanden, auch wenn es mir jetzt, mit einem Abstand von sieben Jahren betrachtet, unbedeutend und eigentlich ziemlich albern vorkommt.
Es heißt, dass man bereits in den ersten Minuten einer neuen Bekanntschaft alles in Erfahrung bringt, was man über einen anderen Menschen wissen muss. Im Rückblick betrachtet, glaube ich, dass es stimmt. Henry war an jenem Abend schon pedantisch und sehr diszipliniert, aber auch warmherzig und auf seine Weise unterhaltsam. Wir machten es einander sehr leicht, uns zu verlieben.
Irgendwann rief Ainsley an, um zu sagen, dass ihr Zug stecken geblieben war, und ein paar Minuten später meldete sich auch Henrys Freund mit der Nachricht, dass er nicht aus dem Büro wegkam. Doch keiner von uns beiden wich von seinem Barhocker. Stattdessen bestellte ich noch einen Cosmopolitan und Henry noch ein Bier. Wir blieben sitzen und redeten und redeten – und waren die glücklichsten Menschen auf Erden, oder zumindest im «The Tetons».
5
«Gute Arbeit!»
An meinem ersten Arbeitstag im alten Büro nimmt mich Josie, meine Chefin, nach dem Meeting mit den Leuten von Coca-Cola noch zur Seite. Ich hatte meinen Slogan «Coke – zischt und erfrischt!» präsentiert, zusammen mit Skizzen von Menschen verschiedenster Herkunft, die umhüllt von schwebenden Luftblasen jeweils zu ihrer eigenen, erfundenen Melodie singen oder rappen. Ich wusste, wie Josie auf meine Präsentation reagieren würde. Und ich wusste, sie würde an meinem Schreibtisch vorbeischauen, während das Management von Coca-Cola sich im Konferenzraum dazu entschloss, unsere Agentur mit ihrer Mega-Marketing-Printkampagne zu beauftragen.
«Das war ein Klacks», sage ich und stürze den zweiten Kaffee an diesem Tag hinunter.
Ähnlich wie mein Kleiderschrank meines früheren Lebens befindet sich mein Arbeitsplatz im Chaos. Der Bildschirm ist eingerahmt von gelben Klebezetteln, auf dem Schreibtisch türmen sich wankende Stapel Papier, darunter liegen Bleistifte und Kugelschreiber begraben sowie jede Menge Agenturfotos. Das alles neigt sich gefährlich in Richtung Tastatur.
Josie nimmt von dem Stuhl gegenüber vorsichtig zwei Tragetaschen, die mit Werbegeschenken potenzieller Kunden vollgestopft sind, und setzt sich.
Sie sieht genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe:blass und erschöpft, aber dennoch wie eine Frau, nach der man sich früher auf der Straße umdrehte und die immer noch das Potenzial reiner Schönheit besitzt, der aber ausreichend Schlaf und die nötige Zeit fehlen, um sich wieder zurückzuverwandeln. Die stumpfen braunen Haare sind im Nacken zu einem unordentlichen Knoten geschlungen, und die Fältchen um ihre Augen machen sie mindestens fünf Jahre älter, als sie ist. Auf den ersten Blick könnte man sie leicht auf Mitte vierzig schätzen, obwohl sie erst in einem Monat neununddreißig wird.
«Also», seufzt sie. «Deine Idee ist phantastisch. Und ich bin sehr beeindruckt davon, wie du es geschafft hast, daraus ein derart rundes Konzept zu machen.»
Ich presse die Lippen zusammen und lächle. Das war wirklich ein Kinderspiel. Ich habe einfach mit meinem Slogan angefangen – dem gleichen, den ich auch vor sieben Jahren entworfen hatte. Nur dass ich mir dann noch die Ideen für die Kampagne unter den Nagel gerissen habe, die wir damals gemeinsam im Team entwickelten, nachdem Coke den Vertrag unterschrieben hatte. Von Ben, einem unserer Kreativen, stammte die Szenerie mit den «Leuten von der Straße», während Susan, unser Genie aus der Graphikabteilung, die Luftblasen beisteuerte, die von einem zum anderen schweben. Damals hatte ich den Slogan in die Runde geworfen, wie ein Blinder einen Pfeil werfen würde: in der vagen Hoffnung, damit wenigstens in die Nähe des Schwarzen zu treffen. Diesmal packte ich die Pfeile auf ein rotes Samtkissen und überreichte sie mit einem
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