Gestern fängt das Leben an
Zeit woanders gewesen. Aber wie geht es Vivian denn?» Meine Stimme trieft vor Verständnis.
«Schon besser», erklärt Leigh. «Aber du kennst sie ja. Auch wenn sie sich auf dem Weg der Besserung befindet, der Rest von uns muss weiter leiden.»
Ich erlaube mir ein nervöses Lachen, bin mir aber nicht ganz sicher, wie Leigh das gemeint hat. Schließlich haben sich Vivians Kinder noch nie dazu herabgelassen, etwas Enthüllendes über ihre Mutter zu sagen. Ich schnappe mir einen Colakaugummi und schiebe ihn mir unter die Zunge.
«Jedenfalls habe ich angerufen, weil Allie und ich uns gleich auf den Weg in die Stadt machen und ich gehofft hatte, wir könnten uns vielleicht sehen. Hättest du Lust, dich in einer Stunde mit uns am Zoo zu treffen?»
«Natürlich!», sage ich, ohne zu zögern. Hoffentlich war das jetzt nicht zu überschwänglich, oder noch schlimmer, zu verzweifelt.
Einsames Mädchen sitzt an ihrem freien Tag mutterseelenallein im Büro und wartet darauf, dass das Telefon klingelt.
«Allie!», kreischt Leigh plötzlich, und ich halte das Telefon von meinem Ohr weg. «Geh sofort von dem Fensterbrett runter! Hat man denn nur Ärger mit dir? … Entschuldige, Jillian», seufzt sie. «Also treffen wir uns in einer Stunde vor dem Haupteingang am Zoo? Allie wird begeistert sein.»
Als ich aufgelegt habe und mich zum Fenster drehe, bleibt mir Leighs genervte Stimme im Ohr kleben wie Karamell im Zahn. Und es fällt schwer, ihn nicht zu erkennen, diesen verzweifelten Tonfall, so leise und flüchtig er auch sein mag. Sie klingt genauso wie ich damals, in meinem alten Leben, ehe ich die Chance bekam, es besser zu machen.
***
Sosehr sich die Stadt über das lange Wochenende auch geleert hat, im Zoo wimmelt es vor Familien. Ich entdeckeAllie, ehe sie mich sieht. Ihre weißblonden Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten. Sie trägt eine gelbe Caprihose, die mit leuchtend roten Wassermelonen bedruckt ist, und auf dem hellen Top prangt ein Riesenexemplar im gleichen Design. Sie hält Leighs Hand und popelt verstohlen in der Nase. Ich starre sie hilflos an: Katie hat zwar meine dunkelbraunen Locken geerbt, aber ansonsten wäre sie – viereinhalb Jahre älter – vielleicht das exakte Ebenbild von Allie.
«JILLIAAAAANNNNN!» Allie hat mich entdeckt und kommt mit übermütigen Sprüngen auf mich zugehüpft. Wie eine kleine Spinne versucht sie, an mir hochzuklettern. Ich beuge mich hinunter und nehme sie in die Arme.
«Allie! Hör auf. Komm sofort von ihr runter!» Ich werfe einen Blick über Allies Schulter und sehe Leigh auf uns zulaufen. «Du kannst doch nicht einfach so über Jillian herfallen!»
«Ach, das macht mir nichts aus», sage ich und stelle Allie auf ihre eigenen Füße zurück. «So stürmisch bin ich schon lange nicht mehr begrüßt worden.»
Wir schlendern durch das schmiedeeiserne Tor und schließlich in Richtung Pinguinhaus.
In dem verdunkelten Raum riecht es nach feuchtem Seetang und Meersalz. Allie drückt das Gesicht so nah an die Glasscheibe des Pinguinbeckens, dass ihr feuchter Atem sichtbar wird. Entzückt sieht sie zu, wie zwei Pinguine so elegant in dem kalten Wasser vorbeitauchen, als würden sie durch die Luft schweben. Sie schwimmen nebeneinander, bis sie den Felsen erreichen und sich zu ihren Artgenossen gesellen.
Leigh und ich sehen genauso fasziniert wie Allie dabeizu, wie die Pinguine sich immer wieder in das einladende Wasser stürzen. Allem Anschein nach tun sie dies aus reiner Freude am Augenblick. Sie genießen den Moment des Sprungs.
Irgendwo in mir regt sich ein eifersüchtiger Stich. So frei zu sein! Immer wieder den Absprung zu wagen. Doch im gleichen Augenblick wird mir klar, wie unglaublich dumm es ist, einen Pinguin zu beneiden, noch dazu einen Pinguin, der im Zoo gefangen ist.
So schnell, wie Kinder sich nun mal langweilen, flitzt Allie nach zehn Minuten auch schon wieder aus dem Pinguinhaus hinaus. Leigh und ich eilen hinterher ins gleißende Sonnenlicht.
«Du, Allie?», rufe ich, als sie zum Eisbärengehege weiterrennt. «Wusstest du eigentlich, dass Pinguinpärchen ihr Leben lang zusammenbleiben? Das ist für Tiere ziemlich ungewöhnlich.»
Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. «Meinst du, sie heiraten? So wie Mama und Papa?»
«So in der Art», antwortet Leigh und lächelt mich an.
«Aber ob sie wirklich Hochzeit feiern», erkläre ich, «weiß ich leider nicht.» Ich ertappe mich dabei, wie ich unbewusst mit der leeren Stelle an meinem Ringfinger
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