Gestern fängt das Leben an
Familie,
seiner
Familie, scheint eindeutig nicht erwünscht zu sein.
«Mein Vater sagt, sie hat gestern Abend nach mir gefragt. Meine Schwestern haben alle Hände voll zu tun mit ihren Kindern. Ich bin also der Einzige, der kommen kann.»
«Aber Jack …», werfe ich ein, schlucke aber dann all die Vorwürfe herunter, die ich ihm in meinem alten Leben jetzt gemacht hätte. Vielmehr schlage ich den aufrichtigen Unterton einer besorgten Freundin an. «Ich würde wirklich gerne –»
«Jill, bitte», fällt er mir ins Wort. «Ich weiß das wirklich zu schätzen. Aber ich komme schon allein zurecht.»
«Natürlich kommst du damit zurecht», sage ich gedämpft. «Ich will ja auch nur mitkommen, um mein Mitgefühl zu zeigen.»
«Oh, das ist wirklich süß von dir», sagt er beiläufig und springt schon wieder auf. Er ist viel zu abgelenkt, um es wirklich so zu meinen. Er küsst mich nochmal flüchtig auf die Lippen. Dann packt er seine Tasche und verschwindet zur Tür hinaus.
«Ich rufe dich heute Nachmittag an», höre ich ihn noch sagen, dann poltert er auch schon die Treppe hinunter, und die Tür fällt ins Schloss.
Nach einer Weile lege ich mich wieder hin, knipse das Licht aus und schließe jegliche Enttäuschung gut weg, so wie meine Mutter früher selbstgekochte Marmelade luftdicht einmachte, damit sie den Winter über hielt.
Das letzte Mal bist du schließlich auch nicht dabei gewesen,
ermahne ich mich.
Also mach dir keine Sorgen. Nichts hat sich geändert.
Langsam gleite ich in den Schlaf. Diesmal träume ich weder von Henry noch von Jack. Aber ich merke auch nicht, dass ich das Wesentliche offensichtlich immer noch nicht begriffen habe.
12
Am Labour Day ist es ruhig im Büro. Alle anderen haben die Stadt verlassen und sind in sprichwörtlich grünere Gefilde geflohen. Meg und Tyler hatten mich gebeten, bei ihnen im Strandhaus zu bleiben, aber nach Jacks Abreise war mir nicht mehr nach Strandspaziergängen neben zwei Verliebten und Margaritas zumute, die zu
dem
Wochenende meiner wieder ins Leben gerufenen Beziehung gehören sollten. Also schlug ich ihre Lockungen mit selbstgebackenen Pfannkuchen in den Wind, stieg in einen nach Zigaretten und Wunderbaum stinkenden Mietwagen und floh zurück in die verlassene Enklave meines Büros.
Es gab genug zu tun: Storyboards, Druck-Layouts, Textredaktionen. Ich hatte es ja alles schon mal getan, vor sieben Jahren. Es bestand also keinerlei Gefahr, dass meine Arbeit trotz aller Anstrengungen vielleicht auf Ablehnung stoßen würde und ich meine Freizeit umsonst hier verbrachte.
Wenn ich heute hier arbeite, ist es, wie es immer war. Ich kann stundenlang über meiner Lupe und den Skizzen meditieren. Dennoch gelingt es mir diesmal nicht, die trüben Gedanken zu verdrängen.
Seit fast zwei Monaten führe ich jetzt schon mein neues Leben. Aber immer noch fühlt es sich ab und zu so an, als würde ich einzelne Puzzleteile in klaffende Lücken drücken, in die sie eigentlich gar nicht passen.
Vielleicht reichen meine ganzen chamäleonhaften Anstrengungen mit Jack, all die kleinen Veränderungen, die ich
mir selbst antue, nicht aus, um mich vollkommen in seine Umgebung einzufügen,
denke ich.
Dabei sollte diesmal alles völlig reibungslos laufen
!
, sage ich mir.
Genau darum geht es doch. Du hast den gesamten Spielablauf vor dir, du kennst die Züge. Und doch läuft es alles andere als reibungslos
.
Ich sitze an meinem Schreibtisch gerade über einer Skizze von einer Frau auf der Straße, als in den Tiefen meiner Handtasche mein Handy klingelt. Ich lehne mich über die Stuhllehne, um rechtzeitig mein Telefon zu finden. Offensichtlich etwas zu ruckartig, denn ein Rückennerv meldet sich beleidigt zu Wort.
«Hallo?» Ich klemme mir das Telefon zwischen Hals und Ohr und stehe auf, um mich zu strecken. Ich habe zwei Stunden lang regungslos über den Entwürfen gesessen, und meine Schultern sind steinhart.
«Jillian? Äh … Hallo, hier spricht Leigh.» Sie macht eine kurze Pause. «Jacks Schwester.»
«Oh, hallo!» Meine Stimme verwandelt sich zu einer Art Quieken.
Jacks Schwester!
In meinem alten Leben hat sie mich nie angerufen!
«Ich hoffe, ich störe dich nicht … Jack hat erzählt, dass du am Wochenende allein bist, wegen des Unfalls unserer Mutter. Obwohl du ja auch in dem Strandhaus eurer Freunde hättest bleiben können –»
«Ach, du weißt ja, wie das ist», unterbreche ich sie schnell. «Ich wäre mit meinen Gedanken doch nur die ganze
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