Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
einzigen Funken. »Sie werden mich besuchen, wenn sie noch einmal nach Umbrien kommen.«
Erik warf Donata Zöllner einen Blick zu, in der Hoffnung, in ihren Augen ein kleines Lächeln zu finden, das sie in der Beurteilung italienischer Lebensart zu seiner Komplizin machte. Aber Donata sah erneut in den Himmel, als wollte sie von nun an trotz der Gesellschaft ihrer Reisebegleiter allein bleiben.
Dann kamen einige der Autofahrer aus dem Bistro, und schon rumpelten die ersten Wagen auf den Autozug. Donata wühlte in ihrer Tasche herum, bis sie fand, was sie suchte: ein Buch, das sie aufschlug, kaum dass sie sich im Fond des Wagens niedergelassen hatte. Erik sah ungläubig in den Rückspiegel. Sie wollte lesen, während der Sylt-Shuttle dem Meer entgegenfuhr? Während die würzige Nordseeluft durchs geöffnete Fenster drang? Während der Zug gemächlich in See stach, verfolgt von kreischenden Möwen?
Ja, sie tat es wirklich. Und damit verlor sie einen Teil der Sympathie, die Erik ihr entgegengebracht hatte. Seiner Schwiegermutter hätte er nachsehen können, wenn sie angesichts des Friedens, der über dem Watt lag, in laute Verzückung ausgebrochen wäre, statt still die Schönheit des Wattenmeeres zu genießen. Aber ungerührt die Seiten umblättern, während sich vor den Fenstern dieser Frieden ausdehnte? Nein, das war nicht zu entschuldigen.
Erik lächelte Mamma Carlotta an und bereute nun, dass er nicht mit ihr allein geblieben war. Sie erkannte wie er den Frieden, der über dem Watt lag, er spiegelte sich in ihren Augen. Sie genoss ihn und verzichtete sogar darauf, fröstelnd die Arme um den Oberkörper zu schlagen, weil die Sylter Sonne nur eine müde Verwandte jener Sonne war, die auf Umbrien hinabbrannte.
Mamma Carlotta verbrachte ihren ersten Tag auf Sylt in einem Wechselbad der Gefühle. Sie schäumte über vor Glück, als sie ihre beiden Enkelkinder in die Arme schließen konnte, und weinte, während sie alles betrachtete, was sie an Lucia erinnerte. Sie kniff in Carolins Wangen, damit sie ihre Blässe verloren, und zupfte ihre Haare aus dem Gummiband, damit sie locker auf Carolins Schultern fielen. »Ecco! So bist du noch hübscher!« Dann schob sie Felix’ Käppi in eine völlig uncoole Position und unternahm sogar den Versuch, seine Hose, deren Schrittnaht zwischen den Knien baumelte, in die Höhe zu ziehen. »Madonna! Warum straft mich der Himmel mit einem Enkelsohn, der aussieht wie ein Landstreicher?«
Felix genoss jeden einzelnen ihrer Gefühlsausbrüche, drehte den Schirm seines Käppis zurück und zog seine Hose wieder an den richtigen Platz. Carolin dagegen zwang ihre Haare in das Gummiband zurück und wandte sich ab, wenn ihre Nonna die Arme öffnete, um jedes Enkelkind zu umschlingen. Genau so hatte sie es gemacht, wenn die emotionalen Ausschweifungen ihrer Mutter sie bedrängt hatten. Während Felix sich auch als Vierzehnjähriger noch gerne herzen, küssen und mit vielen Kosenamen überschütten ließ, zog Carolin sich an die Seite ihres Vaters zurück und war zufrieden mit der Hand, die er ihr auf die Schulter legte.
Erik sah schon nach wenigen Stunden völlig entkräftet aus. Als Mamma Carlotta beschloss, einen Besuch an Lucias Grab zu machen, erklärte er hastig, er müsse im Kommissariat nach dem Rechten sehen. Doch kaum erwähnte seine Schwiegermutter, dass sie auf dem Rückweg vom Friedhof bei Feinkost Meyer fürs Abendessen einkaufen würde, versprach er, pünktlich zurück zu sein.
Das versicherte auch Felix, der zur Freude seiner Großmutter etwas angezogen hatte, was jedem Jungen gut stand, in Umbrien wie auf Sylt: ein Fußballtrikot.
»Ich bin Stürmer«, erzählte er stolz. »Und unser Trainer hat gesagt, ich könnte es noch weit bringen. Am Sonntag ist ein wichtiges Spiel, wir müssen jeden Tag trainieren.«
Als Erik nach Hause kam, war Mamma Carlottas Glück, zu dem unbedingt eine gehörige Portion Sentimentalität gehörte, vollkommen. Der Besuch an Lucias Grab hatte den Blick auf das Wunderbare gelenkt, das ihre Tochter hinterlassen hatte. Und während Carlotta Gemüse schnippelte, Fisch entgrätete und das Fleisch mit Knoblauch einrieb, war Lucia so gegenwärtig, dass das Glück, sie gehabt zu haben, das Unglück, sie verloren zu haben, erträglich machte.
Als sie am späten Abend ins Gästezimmer hinaufstieg, das einmal Lucias Nähzimmer gewesen war, konnte sie sich vor das Bild ihrer Tochter setzen, ohne zu weinen, konnte feststellen, wie ähnlich Felix seiner
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