Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
Fensterläden so sehr, dass er glaubte, es nicht aushalten zu können.
Als er seine Schwiegermutter von Weitem sah, seufzte er und richtete sich mühsam auf. Er war nicht überrascht, als sie an der Seite einer Dame in die Ankunftshalle trat, mit der sie in ein inniges Gespräch vertieft war. Mamma Carlotta und ihre Freude am Erzählen, er kannte es zur Genüge! Er brauchte nur an ihren ersten Aufenthalt in Wenningstedt zu denken. Seine Schwiegermutter hatte während der beiden Wochen mehr Bekanntschaften gemacht als er selbst in zwei Jahren. Die Kassiererin von Feinkost Meyer hatte noch gestern nach ihr gefragt, und der Bäcker, bei dem Erik seine Brötchen kaufte, ließ jedes Mal Grüße an sie ausrichten.
Er beobachtete ihre großen Gesten, die jeden Norddeutschen befremdeten, runzelte die Stirn beim Anblick ihrer vibrierenden Löckchen und litt einen winzigen Augenblick an der Frage, ob auch Lucia sich unter der Witwenschaft derart entfaltet hätte, wenn nicht sie, sondern er das Opfer dieses schrecklichen Autounfalls geworden wäre.
Erik versuchte den bedrückenden Gedanken abzuschütteln. Nein, nicht an Lucia denken! Es war schwer genug, dass sie in den folgenden zwei Wochen fast so nah sein würde wie unmittelbar nach ihrem Tod. Die mühsam verheilte Wunde würde wieder aufbrechen, wenn Erik in Carlottas Augen sah, die die gleiche Farbe hatten wie Lucias, wenn er Carlottas Grübchen sah, an denen er sich bei Lucia nicht hatte sattsehen können, wenn er die helle Stimme seiner Schwiegermutter hörte und das Lachen, das dunkel und rau war. Genau wie bei Lucia.
Mürrisch sah er Carlotta entgegen. Die italienische Mamma, die er früher gekannt hatte, in ihrer schwarzen Kleidung, mit dem pflegeleichten Haarknoten, in ihrer Umgebung, in der schnelles und lautes Reden nicht unangenehm auffiel, hätte er unbefangener willkommen geheißen als diese aufgeblühte Witwe, die Lippenstift und Lockenstab im Gepäck hatte, ein längs gestreiftes Kleid trug, als wäre es ihr wichtig, die Figur zu strecken, und über der Schulter einen kleinen Lederrucksack.
Er seufzte, als sie strahlend auf ihn zukam, und seufzte noch einmal, als sie die Arme öffnete und schon zehn Meter bevor sie ihn erreichte mit den Händen wedelte, als wollte sie ihn in ihre Umarmung locken. »Enrico!«
Dass er sich nicht locken ließ, verstand sich von selbst. Aber dass er trotzdem an ihre Brust gezerrt wurde, leider auch.
Als er sich Mamma Carlottas Begleitung zuwandte, hatte er das unangenehme Gefühl, dass seine Schwiegermutter seinem Gesicht das Muster ihres Kleides aufgedrückt hatte.
Donata Zöllner, die ihm von seiner Schwiegermutter begeistert vorgestellt wurde, erwies sich zum Glück als angenehm wortkarg. So hatte Erik nichts dagegen, sie in seinem Wagen mit nach Sylt zu nehmen. Mamma Carlotta schien großen Wert darauf zu legen, ihrer Reisebekanntschaft diese Gefälligkeit zu erweisen, und ihm war es lieb, denn Donata Zöllner würde ihm einen Teil der anstrengenden Konversation abnehmen. Das konnte nur von Vorteil sein.
Dass diese elegante, sehr distinguiert wirkende Frau wusste, worauf sie sich einließ, setzte er voraus. Wenn sie nach dem gemeinsam verbrachten Flug nichts dagegen hatte, das Zusammensein mit Carlotta Capella zu verlängern, gehörte sie wohl zu denen, die sich an lärmender Unterhaltung erfreuten und nichts dabei fanden, etwas über den Lebenslauf eines italienischen Weinbauern zu erfahren, der siebzehn Kinder von drei Frauen hatte, oder eines Dorfgeistlichen, der den Messwein selbst trank und den Gläubigen Apfelsaft unterschob.
Donata Zöllner schien es sogar zu genießen. Erik warf gelegentlich einen Blick in den Rückspiegel und stellte fest, dass das Lächeln in ihrem Gesicht selbst in Niebüll noch nicht verschwunden war.
Vor der Verladerampe schlossen sie sich einer langen Autoschlange an und warteten auf den Zug, der sie über den Hindenburgdamm nach Sylt bringen sollte. Sie stiegen aus, um während des Wartens die Luft und die Sonne zu genießen. Dichte Wolken zogen über den Himmel, tief hingen sie, aber sie waren nicht bedrohlich. Hell und bauschig wie dicke Zuckerwatte sahen sie aus, wie Schaumberge in der Badewanne.
»Ein schöner Himmel! Nicht so ein langweiliges Blau wie in Italia«, stellte Mama Carlotta fest.
Erik schenkte ihr ein erstes warmes Lächeln. Dass sie im kalten Norden etwas fand, was dem sonnigen Süden überlegen war, ließ ihn hoffen.
»Warum haben Sie ausgerechnet das Hotel
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