Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
roch, das die Sonne verbrannt hatte. Und während sie am Zaun entlangspazierte, hatte sie einen friesischen Witz gehört, der sie so amüsierte, dass sie sich das Lachen nicht verkneifen konnte. Dadurch waren die Feriengäste auf sie aufmerksam geworden, und sie hatte sich für ihr unfreiwilliges Lauschen mit einem italienischen Witz entschuldigt. Hätte sie ablehnen sollen, als man sie daraufhin herüberbat? In ihrem Alter kam man mit wenig Schlaf aus. Aber wie lange dauerte es eigentlich, bis so eine Kopfschmerztablette ihre Wirkung entfaltete?
Sie brauchte frische Luft und beschloss, sich auf den Weg ans Meer zu machen. Dort würde es ihr bald besser gehen. Fietje Tiensch würde in seinem Strandwärterhaus am Ende der Seestraße sitzen und sich freuen, Mamma Carlotta wiederzusehen. Und gegen Mittag würde Tove Griess seine Imbissstube geöffnet haben. Wenn er noch immer den Rotwein aus Montepulciano ausschenkte, sollte sie unbedingt überprüfen, ob er im Juli genauso gut schmeckte wie im April. Außerdem hatte sie in der vergangenen Nacht gelernt, dass ein Kater am besten zu bekämpfen war, wenn man nach dem Aufwachen mit der Sorte Alkohol weitermachte, mit der man in der Nacht aufgehört hatte.
Sie ging auf die Terrasse, hielt ihr Gesicht in die Sonne und stellte fest, dass ein Hochsommertag auf Sylt so anfing wie die allerersten Frühlingstage in Umbrien. Prickelnd wie frisch eingeschenkter Sekt, mit einer Sonne, die auf der Haut perlte. Mamma Carlotta hatte gerade ihre Strickjacke übergezogen, als das Telefon klingelte. Donata Zöllner war am Apparat.
»Was für eine Überraschung!« Mamma Carlotta war begeistert.
»Wie wär’s mit einem Frühstück im Café Lindow?«, fragte Donata. »Da ist es in der Hauptsaison ruhiger als im Kliffkieker oder im Meeresblick.«
»Sehr gerne!« Mamma Carlotta war entzückt. »Aber wollten Sie heute nicht Ihre Freundin besuchen, die Sie so lange nicht gesehen haben?«
»Das hat Zeit bis heute Nachmittag«, gab Donata zurück. »Magdalena ist eine Langschläferin. Ich habe gerade bei ihr angerufen, aber sie hat nicht mal abgenommen.«
Dann beschrieb sie den Weg zum Café Lindow und erklärte, dass sie um halb zehn dortsein würde. Fünf Minuten später hatte Mamma Carlotta Lucias Fahrradschlüssel gefunden, saß sechs Minuten später auf dem Sattel und bog in die Westerlandstraße ein. Es war noch genug Zeit, um das Meer und den Strand zu begrüßen.
Sie bog in die Seestraße ein und fuhr geradewegs auf das Meer zu. Der Strand unterhalb des Kliffs war erst zu sehen, wenn man an Fietjes Strandwärterhaus angekommen war. Mamma Carlotta trat kräftig in die Pedale, die Weite beschwingte sie. Das Gefühl, direkt in den Himmel zu radeln, vermittelte eine Freiheit, die der Gegenwind ihr nicht nehmen konnte.
Voller Bedauern stellte sie fest, dass das Strandwärterhaus leer war. Fietje war anscheinend unterwegs, um am Strand nach dem Rechten zu sehen. Mamma Carlotta stellte sich an die Brüstung der hohen Treppe, sah über das Meer und über den Strand. Fietje würde sie später begrüßen.
Sie wickelte die Strickjacke um ihren Körper und bestaunte die Feriengäste, die sich in Badekleidung an ihr vorbeidrängten. Im Gegensatz zu Mamma Carlotta hatte keiner von ihnen eine Gänsehaut. Inzwischen hatte sich Sonne hinter tief hängenden Wolken verborgen, die in transparenten Fetzen aufs Festland zutrieben. Vor zwei Stunden noch war die Bläue nur von ein paar milchigen Schlieren überzogen gewesen, jetzt jedoch plusterte der Himmel sich auf, die Wolken gaben mit dicken Backen den Ton an.
Mamma Carlotta lächelte in den Himmel hinein. Lucia war ihr nahe, sie hatte das Zeichen gegeben, um das ihre Mutter gebeten hatte. Auch Lucia wollte nicht, dass Erik sich in Valerie Feddersen verliebte. Sie würde dabei helfen, dass er, wenn es schon sein musste, sich in eine Frau verliebte, die frei für ihn war. Besser aber, er ließ es ganz.
Es war zwanzig nach neun. Mamma Carlotta überholte Donata Zöllner, die zu Fuß unterwegs war, sprang vom Fahrrad und ging die letzten Meter neben Donata her.
»Nun müssen Sie mir endlich von Ihrer Familie erzählen«, meinte sie ungeduldig.
Doch Donata ließ sich Zeit mit der Antwort, bis sie im Café Platz genommen und ihr Frühstück bestellt hatten. Zunächst fragte sie: »Wieso sprechen Sie eigentlich so gut Deutsch?«
Mamma Carlotta berichtete ausführlich, dass sie von ihrer Enkelin, als diese noch Lehrerin werden wollte, unterrichtet
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