Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
Vom Netzwerk:
Versuchspersonen fragte, ob es in Ordnung wäre, wenn Bruder und Schwester einvernehmlich geschützten Sex hätten, wenn jemand eine Toilette mit einer ausrangierten amerikanischen Fahne reinigen würde, wenn eine Familie einen Haushund isst, der von einem Auto überfahren wurde, wenn ein Mann ein totes Huhn kauft und sich mit ihm sexuell betätigt, oder wenn jemand den am Sterbebett abgelegten Eid bricht, das Grab seiner Mutter zu besuchen, sagten sie in allen Fällen nein. Als er aber nach einer Rechtfertigung fragte, stotterten die Befragten halbherzig herum, gaben schließlich auf und sagten: »Ich weiß nicht, ich kann es nicht erklären, aber ich weiß, dass es falsch ist.«
    Moralische Normen sind selbst dann, wenn man sie nicht in Worte kleiden kann, manchmal eine wirksame Bremse für gewalttätiges Verhalten. Wie wir bereits erfahren haben, ist die Vermeidung mancher Formen von Gewalt, so der Gnadentod für ein verstoßenes Kind, die Vergeltung für eine Beleidigung oder die Kriegserklärung an einen anderen Industriestaat im modernen Westen nicht das Ergebnis der Abwägung moralischer Fragen, des Mitgefühls mit den Opfern oder der Unterdrückung eines Impulses, sondern die gewalttätige Handlung kommt im Geist als Möglichkeit überhaupt nicht vor. Die Handlung wird nicht in Betracht gezogen und dann vermieden, sondern sie ist undenkbar oder lächerlich.
     
    Die grundlegenden kulturellen Unterschiede, was die moralische Einstufung bestimmter Verhaltensweisen angeht, und die moralische Sprachlosigkeit in unserer Kultur könnten in ihrer Gesamtheit den Eindruck entstehen lassen, als seien Normen und Tabus etwas Willkürliches – als könne es irgendwo eine Kultur geben, in der es unmoralisch ist, einen Satz mit einer geraden Zahl von Wörtern auszusprechen oder zu leugnen, dass der Ozean kochend heiß ist. Wie der Anthropologe Richard Shweder sowie einige seiner Studenten und Mitarbeiter jedoch feststellten, konzentrieren sich die moralischen Normen auf der ganzen Welt rund um eine kleine Zahl von Themen. [1813] Die Intuitionen, die wir im modernen Westen für das Kernstück der Moral halten – Fairness, Gerechtigkeit, Schutz des Individuums und Verhütung von Schäden – sind nur einer von mehreren Themenbereichen, die sich mit den kognitiven und emotionalen Kennzeichen einer moralischen Bewertung verbinden können. Schon ein kurzer Blick auf alte Religionen wie Judentum, Islam und Hinduismus erinnert uns daran, dass dort eine Fülle anderer Themen moralisch unterlegt werden, beispielsweise Loyalität, Respekt, Gehorsam, Asketentum und Bestimmungen über körperliche Vorgänge wie Essen, Sexualität und Menstruation.
    Shweder strukturierte die Moralthemen der Welt auf dreierlei Weise. [1814] Die Selbstbestimmung, unsere im Westen anerkannte Grundlage der Ethik, geht davon aus, dass das soziale Umfeld aus Individuen besteht und dass Moral dazu dienen soll, dass sie ihre Entscheidungen umsetzen können und vor Schäden geschützt werden. Die Ethik der Gemeinschaft dagegen sieht im sozialen Umfeld eine Ansammlung von Stämmen, Clans, Familien, Institutionen, Gilden und anderen Vereinigungen; Moral wird dann mit Pflichterfüllung, Respekt, Loyalität und gegenseitiger Abhängigkeit gleichgesetzt. Die Ethik des Göttlichen postuliert, dass die Welt aus einer göttlichen Essenz besteht, deren einzelne Teile in den Lebewesen zu Hause sind; dann ist es der Zweck der Moral, diesen Geist vor Zerstörung und Verunreinigung zu schützen. Wenn der Körper nur ein Behälter für die Seele ist, die letztlich einem Gott gehört oder ein Teil von ihm ist, haben Menschen nicht das Recht, mit ihrem Körper zu machen, was sie wollen. Sie müssen es vielmehr vermeiden, ihn zu verunreinigen, und dazu müssen sie auf unreine Formen von Sexualität, Lebensmitteln und anderen körperlichen Freuden verzichten. Die Ethik des Göttlichen steht hinter der moralischen Bewertung des Ekels und der Wertschätzung von Reinheit und Asketentum.
    Haidt entwickelte Shweders Dreiteilung weiter und unterteilte zwei seiner Ethiken nochmals in zwei Kategorien. So gelangte er zu insgesamt fünf Themenbereichen, die er als moralische Grundlagen bezeichnete. [1815] Das Gemeinschaftsdenken wurde in Loyalität zur eigenen Gruppe und Autorität/Respekt unterteilt, die Selbstbestimmung gliederte er in Fairness/Gegenseitigkeit (die Moral, die hinter dem wechselseitigen Altruismus steht) und Schaden/Besorgnis (die Kultivierung von Freundlichkeit und

Weitere Kostenlose Bücher