Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
Vom Netzwerk:
der Opfer unmoralischer Raubzüge und Eroberungen. Das Moralgefühl der Menschen kann in den Köpfen der Täter jede Gräueltat entschuldigen und stattet sie mit den Motiven für Gewaltakte aus, die ihnen keinen greifbaren Nutzen bringen. Die Folterung von Ketzern und Konvertiten, die Hexenverbrennungen, die Verhaftung von Homosexuellen und die Ehrenmorde an unkeuschen Schwestern und Töchtern sind nur einige von vielen Beispielen. Das nicht zu beziffernde Leid, das der Welt von Menschen mit moralischen Motiven zugefügt wurde, reicht aus, damit man Sympathie mit dem Komiker George Carlin empfindet, der einmal sagte: »Ich glaube, die Motivation wird überschätzt. Zeigen Sie mir einen Faulpelz, der den ganzen Tag nur herumliegt, Spielshows anschaut und seinen Penis streichelt, dann zeige ich Ihnen jemanden,
der keinen verdammten Ärger macht

    Unter dem Strich könnte der Beitrag unseres Moralgefühls zum Wohlergehen der Menschen also durchaus negativ sein, wo es aber auf geeignete Weise eingesetzt wird, kann es auch das Verdienst für einige gewaltige Fortschritte in Anspruch nehmen, so für die humanitären Reformen der Aufklärung und die Revolutionen der Rechte in den letzten Jahrzehnten. Wenn es um gefährliche Ideologien geht, mag Moral die Krankheit sein, aber Moral ist auch die Therapie. Die Mentalität des Tabus kann wie die Mentalität der Moral, deren Teil sie ist, in beide Richtungen ziehen. Sie kann religiösen oder sexuellen Nonkonformismus zu etwas Empörendem machen, das nach grausamer Strafe schreit, es kann aber auch verhindern, dass der Geist auf gefährliches Terrain abgleitet, beispielsweise zu Gedanken über Eroberungskriege, den Einsatz chemischer und nuklearer Waffen, die Entmenschlichung von Rassenklischees, gelegentliche Anspielungen auf Vergewaltigung und die Tötung identifizierbarer Menschen.
    Wie sollen wir diesen verrückten Engel erklären – jenen Teil der menschlichen Natur, der den stärksten Anspruch darauf erheben kann, die Quelle unserer guten Seiten zu sein, und der andererseits in der Praxis oftmals diabolischer ist als unser schlimmster innerer Dämon?
    Wenn wir verstehen wollen, welche Rolle das Moralgefühl für den Rückgang der Gewalt gespielt hat, müssen wir eine Reihe psychologischer Rätsel lösen. Erstens: Wie können Menschen in verschiedenen Epochen und Kulturen von Zielen angetrieben werden, die sie als »moralisch« empfinden, während sie unseren eigenen Moralmaßstäben in keiner Weise standhalten? Zweitens: Warum drängt uns das Moralgefühl im Allgemeinen nicht dazu, das Leiden zu vermindern, sondern verstärkt es oftmals sogar? Drittens: Wie kann das Moralgefühl so stark unterteilt sein – warum schlagen brave Bürger ihre Frauen und Kinder? Wie können liberale Demokratien Sklaverei praktizieren und Kolonien unterdrücken? Warum wurden Tiere im Deutschland der Nazis mit beispielloser Freundlichkeit behandelt? Viertens: Warum kann Moral sich zum Besseren und Schlechteren von den Taten auf Gedanken ausweiten, was zum Paradox des Tabus führt? Und das alles überragende Rätsel lautet natürlich: Was hat sich geändert? Welcher Freiheitsgrad im Moralgefühl der Menschen wurde von den historischen Prozessen dazu in Anspruch genommen, die Gewalt zurückzudrängen?
     
    Als Ausgangspunkt müssen wir die Moral als solche, die ein Thema der Philosophie (insbesondere der normativen Ethik) ist, vom Moralgefühl der Menschen unterscheiden, einem Gegenstand der Psychologie. Wenn man nicht gerade radikaler moralischer Relativist ist, glaubt man daran, dass Menschen sich in einem gewissen Sinn mit ihren moralischen Überzeugungen
irren
können; dass beispielsweise ihre Rechtfertigung für Völkermord, Vergewaltigung, Ehrenmorde oder die Folterung von Ketzern nicht nur für unsere Empfindlichkeiten abstoßend, sondern auch falsch sind. [1808] Ob man nun moralischer Realist ist und glaubt, dass moralische Wahrheiten ähnlich wie mathematische Wahrheiten objektiv vorhanden sind, oder ob man einfach zugesteht, dass moralische Aussagen eine gewisse Berechtigung haben, weil sie im Einklang mit allgemein üblichen Überzeugungen oder den besten, aus unseren kollektiven, rationalen Entscheidungen erwachsenden Kenntnissen stehen: Man kann Fragen der Moral von Fragen der Moralpsychologie unterscheiden. Letztere fragt nach den geistigen Prozessen, die ein Mensch als Moral
erlebt
und die man wie jede andere kognitive oder emotionale Fähigkeit sowohl im Labor als auch im

Weitere Kostenlose Bücher