Gewalt
der Goldenen Regel oder dem Kategorischen Imperativ. Moral besteht vielmehr darin, dass man eines der Beziehungsmodelle (oder eine der Ethiken oder Grundlagen) respektiert oder verletzt: Betrug, Ausbeutung oder Untergraben eines Bündnisses; Verunreinigung des eigenen Ich oder der eigenen Gemeinschaft; Ablehnung oder Beleidigung einer legitimen Autorität; Schädigung eines anderen ohne Provokation; Annehmen eines Nutzens ohne Bezahlung der Kosten; Veruntreuung von Mitteln oder Missbrauch von Privilegien.
Diese Einteilungsschemata haben nicht den Zweck, ganze Gesellschaften in Schubladen einzusortieren, sondern sie sollen eine Grammatik für gesellschaftliche Normen liefern. [1822] Eine solche Grammatik sollte gemeinsame Gesetzmäßigkeiten aufdecken, die hinter den Unterschieden zwischen Kulturkreisen und verschiedenen Epochen stehen (darunter auch der Rückgang der Gewalt); außerdem sollten sie vorhersagen, wie Menschen auf Übertretungen der herrschenden Normen reagieren, einschließlich ihrer pervers-genialen Fähigkeit der moralischen Unterteilung.
Manche gesellschaftlichen Normen sind schlicht und einfach Lösungen für Koordinationsaufgaben; dies gilt beispielsweise für das Fahren auf der rechten Straßenseite, die Benutzung von Papiergeld und die Verwendung der Sprache aus dem Umfeld. [1823] Die meisten Normen haben jedoch auch einen moralischen Inhalt. Jede derart moralisch unterlegte Norm ist ein abgegrenzter Raum, der ein Beziehungsmodell, eine oder mehrere gesellschaftliche Rollen (Eltern, Kind, Lehrer, Schüler, Ehemann, Ehefrau, Vorgesetzter, Mitarbeiter, Kunde, Nachbar, Fremder), einen Kontext (Zuhause, Straße, Schule, Arbeitsplatz) und eine Ressource (Lebensmittel, Geld, Land, Unterkunft, Zeit, Ratschläge, Sex, Arbeit) enthält. Um zu einem sozial kompetenten Mitglied eines Kulturkreises zu werden, muss man sich eine große Menge solcher Normen zu eigen machen.
Ein Beispiel ist die Freundschaft. Wenn zwei Personen eng befreundet sind, werden sie vorwiegend nach dem Modell des gemeinschaftlichen Teilens tätig. Sie verteilen bei einer Party freigiebig das Essen und tun sich gegenseitig Gefallen, ohne gegeneinander aufzurechnen. Möglicherweise erkennen sie aber auch besondere Umstände, die nach einem anderen Beziehungsmodell verlangen. Vielleicht arbeiten sie bei einer Aufgabe zusammen, für die der eine ein Experte ist und dem anderen Anweisungen gibt (Autorität/Rangfolge), oder sie teilen sich die Benzinkosten für eine Autofahrt (Herstellung von Gleichheit), oder der eine verkauft dem anderen ein Auto zum offiziellen Schätzwert (Marktpreisbildung).
Verletzungen eines Beziehungsmodells werden moralisch schlicht und einfach als falsch eingestuft. Nach dem Modell des Gemeinschaftsgeistes, das in der Regel über Freundschaften bestimmt, ist es falsch, wenn einer beim Teilen geizig ist. Im Sonderfall der Herstellung von Gleichheit durch Teilen der Benzinkosten auf einer Reise besteht die Übertretung darin, dass man den eigenen Anteil nicht bezahlt. Die Herstellung von Gleichheit, die die Fortsetzung einer Beziehung auf Gegenseitigkeit voraussetzt, lässt ein lockeres Aufrechnen zu; ein Beispiel waren die Rancher im Kreis Shasta, die einander Wiedergutmachung für Schäden leisteten, indem sie einander ungefähr gleichwertige Gefallen taten und ein Auge zudrückten, wenn ein kleiner Schaden nicht ausgeglichen wurde. [1824] Marktpreisbildung und andere rational-legale Modelle sind weniger nachsichtig. Ein Gast, der ein teures Restaurant verlässt, ohne zu bezahlen, kann nicht damit rechnen, dass der Wirt ihm zugesteht, den Schaden langfristig wiedergutzumachen, oder dass er einfach ein Auge zudrückt. Wahrscheinlicher ist, dass der Restaurantbesitzer die Polizei ruft.
Wer die Bedingungen eines Beziehungsmodells verletzt, denen er vorher stillschweigend zugestimmt hat, gilt als Parasit oder Betrüger und wird zum Ziel moralistisch gefärbter Verärgerung. Wendet dagegen jemand ein Beziehungsmodell auf eine Ressource an, für die normalerweise ein anderes gilt, kommt ein anderer psychologischer Mechanismus zum Tragen. Ein solcher Mensch verletzt die Regeln eigentlich nicht, sondern er hat sie nicht »begriffen«. Das Spektrum der Reaktionen kann von Erstaunen über peinliche Berührtheit und Hilflosigkeit bis zu Erschrecken, Angriff und Wut reichen. [1825] Stellen wir uns beispielsweise vor, ein Gast würde einem Restaurantbesitzer für ein angenehmes Erlebnis danken und anbieten, ihn irgendwann
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