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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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Freiland untersuchen kann.
    Im nächsten Schritt zum Verständnis des Moralgefühls muss man erkennen, dass es sich dabei nicht nur um das Vermeiden einer Handlung handelt, sondern auch um einen besonderen Weg, an eine Handlung zu denken. Es bestehen wichtige psychologische Unterschiede zwischen der Vermeidung einer Handlung, die man für unmoralisch hält (»es ist falsch, jemanden zu töten«), und der Vermeidung von Handlungen, die einfach nur unangenehm (»ich mag keinen Blumenkohl«), unmodern (»Schlaghosen sind out«) oder unklug (»an Mückenstichen soll man nicht kratzen«) sind. [1809]
    Ein Unterschied besteht darin, dass die Ablehnung einer moralisch bewerteten Handlung
verallgemeinert
ist. Für jemanden, der Blumenkohl nicht mag, spielt es keine Rolle, ob andere dieses Gemüse gern essen. Wer aber Mord, Folter und Vergewaltigung für unmoralisch hält, kann nicht einfach nur selbst diese Taten vermeiden und gleichgültig bleiben, wenn andere darin schwelgen. Man muss es immer missbilligen, wenn
irgendjemand
solche Taten begeht.
    Zweitens sind moralische Überzeugungen
einklagbar
. Auch wenn die Menschen nicht ausnahmslos nach Sokrates’ geflügeltem Wort handeln, wonach »das Gute zu wissen heißt, das Gute zu tun«, streben sie unausgesprochen danach. Moralische Handlungen gelten als von sich aus lohnende Ziele, die keines letzten Motivs bedürfen. Wenn Menschen glauben, dass Mord unmoralisch ist, benötigen sie keine Bezahlung oder noch nicht einmal Anerkennung, um auf die Ermordung eines anderen zu verzichten. Übertreten Menschen eine solche moralische Vorschrift, rationalisieren sie ihr Handeln, indem sie sich auf eine entgegengesetzte Vorschrift berufen, eine Entschuldigung finden oder einräumen, dass es sich bei der Übertretung um eine bedauerliche persönliche Schwäche handelt. Von Teufeln und den Bösewichtern aus Märchenbüchern abgesehen, sagt niemand: »Ich halte Mord für eine heimtückische Gräueltat, und ich begehe sie immer, wenn es meinen Zwecken dient.« [1810]
    Und schließlich sind Verletzungen der Moral
zu bestrafen
. Wer Mord für falsch hält, ist nicht nur berechtigt, einen Mörder bestrafen zu lassen, sondern er ist sogar
verpflichtet
, die Strafe herbeizuführen. Man darf, wie man so sagt, jemanden mit einem Mord nicht davonkommen lassen. Jetzt braucht man das Wort »Mord« nur noch durch »Götzenverehrung«, »Homosexualität«, »Gotteslästerung«, »Umsturzbestrebungen«, »unanständiges Verhalten« oder »Ungehorsam« zu ersetzen, dann erkennt man sofort, wie das Moralgefühl der Menschen zu einer wichtigen Kraft des Bösen werden kann.
    Ein weiteres Konstruktionsmerkmal des Moralgefühls besteht darin, dass viele moralische Überzeugungen nicht als Prinzipien wirksam werden, die ihre Anhänger artikulieren und verteidigen können, sondern als Normen und Tabus. Der Psychologe Lawrence Kohlberg formulierte seine berühmten sechs Stadien der moralischen Entwicklung vom Kind, das Bestrafungen vermeidet, bis zu den universellen Prinzipien der Philosophen; die mittleren beiden Stadien (über die viele Menschen nie hinauskommen) bestehen in der Unterordnung unter Normen, damit man als guter Mensch gilt, und in der Beibehaltung von Konventionen zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Stabilität. Durchdenken Menschen in diesem Stadium das moralische Dilemma, das durch Kohlberg berühmt wurde – Heinz muss in eine Apotheke einbrechen und ein überteuertes Medikament stehlen, das seine sterbende Frau retten wird –, finden sie für ihre Antworten keine bessere Rechtfertigung als die, Heinz solle das Medikament nicht stehlen, weil Diebstahl etwas Schlechtes, Verbotenes ist und Heinz kein Verbrecher, oder Heinz solle das Medikament stehlen, weil ein guter Ehemann so etwas tun muss. [1811] Viel weniger Menschen können eine auf Prinzipien beruhende Rechtfertigung formulieren, beispielsweise die, dass das Leben eines Menschen ein grundlegender Wert ist, der schwerer wiegt als gesellschaftliche Normen, gesellschaftliche Stabilität oder Gehorsam gegenüber den Gesetzen.
    Der Psychologe Jonathan Haidt begründete die Unaussprechlichkeit moralischer Normen mit einem Phänomen, das er als moralische Sprachlosigkeit (
moral dumbfounding
) bezeichnet. Häufig spüren Menschen intuitiv sofort, dass eine Tat unmoralisch ist, und dann bemühen sie sich – häufig erfolglos – um die Suche nach Gründen,
warum
sie unmoralisch ist. [1812] Als Haidt beispielsweise

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