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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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Mitgefühl sowie die Hemmung von Grausamkeit und Aggression). Außerdem versah Haidt die Ethik des Göttlichen mit dem eher säkularen Etikett Reinheit/Heiligkeit. Neben diesen Feinabstimmungen unterstrich Haidt die Vorstellung von der Allgemeingültigkeit der moralischen Grundlagen durch den Nachweis, dass man alle fünf Bereiche in den moralischen Intuitionen säkularer Menschen aus dem Westen wiederfindet. In seinen Szenarien zur moralischen Sprachlosigkeit stand beispielsweise Reinheit/Heiligkeit hinter der Abscheu der Versuchspersonen vor Inzest, Grausamkeit und dem Essen eines Haustieres. Autorität/Respekt veranlasste sie, das Grab der Mutter zu besuchen. Und die Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe verhinderte, dass sie eine amerikanische Fahne entweihten.
    Das nach meiner Einschätzung nützlichste System entwickelte der Anthropologe Alan Fiske. Es geht davon aus, dass moralische Bewertungen aus vier Beziehungsmodellen entspringen, verschiedenen Arten, wie Menschen sich ihre Beziehungen vorstellen. [1816] Die Theorie möchte erklären, wie Menschen in einer bestimmten Gesellschaft Ressourcen aufteilen, woher ihre moralischen Vorstellungen in unserer Evolutionsvergangenheit stammen, wie Moral sich in verschiedenen Gesellschaften unterscheidet und wie Menschen ihre Moral unterteilen und mit Tabus schützen können. Die Beziehungsmodelle lassen sich mit den Klassifikationen von Shweder und Haidt mehr oder weniger folgendermaßen zur Übereinstimmung bringen:

    Das erste Modell, Gemeinschaftliches oder kurz Gemeinschaftsgeist genannt, verbindet die Loyalität zur eigenen Gruppe mit Reinheit/Heiligkeit. Wenn Menschen sich die Geisteshaltung des Gemeinschaftsgeistes zu eigen machen, teilen sie Ressourcen freigebig innerhalb der Gruppe und führen nicht darüber Buch, wer wie viel gibt oder nimmt. Sie stellen sich die Gruppe als »ein Fleisch« vor, das durch eine gemeinsame Essenz vereinigt ist und vor Verunreinigungen geschützt werden muss. Verstärkt wird die Intuition der Einheit mit Bindungs- und Verschmelzungsritualen wie Körperkontakt, gemeinsamen Mahlzeiten, synchronen Bewegungen, einstimmigen Gesängen oder Gebeten, gemeinsamen Gefühlserlebnissen, gemeinsamen Verzierungen oder Verstümmelungen des Körpers und der Vermischung von Körperflüssigkeiten bei Stillen, Sexualität und blutigen Ritualen. Zur Rationalisierung dienen dabei Mythen von gemeinsamen Vorfahren, Abstammung von einem Patriarchen, Verwurzelung in einem bestimmten Gebiet oder Verwandtschaft zu einem totemistischen Tier. In der Evolution entstand der Gemeinschaftsgeist aus mütterlicher Fürsorge, Verwandtenselektion und Mutualismus; im Gehirn umgesetzt wird er wahrscheinlich zumindest teilweise durch das Oxytocinsystem.
    Fiskes zweites Beziehungsmodell, Autorität und Rangfolge genannt, ist eine lineare Hierarchie, die durch Dominanz, Status, Alter, Geschlecht, Körpergröße, Körperkraft, Reichtum oder Präzedenzfälle definiert wird. Es gesteht den höher Stehenden das Recht zu, sich zu nehmen, was sie wollen, Tribut von ihren Untertanen zu verlangen und deren Gehorsam und Loyalität zu fordern. Andererseits verpflichtet es sie zu einer väterlichen, pastoralen oder »Adel verpflichtet«-Verantwortung, die unter ihnen Stehenden zu schützen. In der Evolution geht dies wahrscheinlich auf die Dominanzhierarchien der Primaten zurück, und zu seiner Umsetzung dienen wahrscheinlich mindestens teilweise die Testosteron-empfindlichen Gehirnschaltkreise.
    Zur Herstellung von Gleichheit gehören die Wechselseitigkeit nach dem Motto »Wie du mir, so ich dir« und andere Gesetzmäßigkeiten, nach denen Ressourcen gleichmäßig aufgeteilt werden, wie abwechselnder Zugriff, Münzwürfe, Ausgleich von Beiträgen, Aufteilung in gleiche Teile und verbale Formeln wie ene-mene-mu. Eindeutige Gegenseitigkeit gibt es nur bei wenigen Tieren, Schimpansen haben aber ansatzweise ein Gespür für Fairness, zumindest wenn es darum geht, dass sie selbst zu kurz gekommen sind. Die neuronalen Grundlagen für die Herstellung von Gleichheit liegen in Gehirnteilen, die Absichten, Täuschung, Konflikte, wechselnde Standpunkte und Berechnungen ausführen, darunter die Inselrinde, die Orbitalrinde, der Cortex cingulatus, der dorsolaterale präfrontale Cortex, die Scheitellappen und der temporoparietale Übergang. Die Herstellung von Gleichheit bildet die Grundlage unseres Gerechtigkeitsgefühls und unserer intuitiven Ökonomie; es verbindet uns als Nachbarn,

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