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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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Kollegen, Bekannte und Geschäftspartner, aber nicht als Busenfreunde oder Waffenbrüder. Viele Stämme praktizierten – ein wenig wie die Amerikaner mit ihren Weihnachtskuchen – den rituellen Austausch nutzloser Geschenke, der einzig dazu diente, Beziehungen durch Herstellung von Gleichheit zu festigen. [1817]
    (Beim aufmerksamen Vergleich der verschiedenen Einteilungen fragt sich vielleicht manch einer, warum Haidts Kategorie von Schaden/Fürsorge neben der Fairness steht und mit Fiskes Herstellung von Gleichheit in Übereinstimmung gebracht wird, nicht aber mit kuschelig-gefühlsbetonten Beziehungen wie Gemeinschaftsgeist oder Heiligkeit. Dies liegt daran, dass Haidt Schaden/Fürsorge misst, indem er Menschen nach dem Umgang mit einem schematischen »Jemand« fragt, nicht aber nach dem Umgang mit Freunden und Verwandten, die üblicherweise die Nutznießer von Fürsorge sind. Die Antworten auf solche Fragen stehen völlig im Einklang mit den Antworten auf seine Fragen nach Fairness, und das ist kein Zufall. [1818] Erinnern wir uns noch einmal an die Logik des gegenseitigen Altruismus, mit der unser Gefühl für Fairness umgesetzt wird: Man ist »nett« und kooperiert im ersten Zug, wird nicht abtrünnig, solange der andere nicht abtrünnig wird, und tut einem bedürftigen Fremden einen großen Gefallen, wenn dies mit relativ geringem Aufwand für einen selbst möglich ist. Wenn Fürsorge und Schaden sich über unseren inneren Umkreis hinaus erstrecken, sind sie demnach einfach ein Teil der Logik der Fairness.) [1819]
    Fiskes letztes Beziehungsmodell ist das der Marktpreisbildung: das System von Währung, Preisen, Mieten, Löhnen, Leistungen, Zinsen, Krediten und Derivaten, das eine moderne Wirtschaftsordnung antreibt. Die Bildung von Marktpreisen hängt von Zahlen, mathematischen Formeln, Berechnungen, digitalen Transfers und der Sprache formeller Verträge ab. Anders als die drei übrigen Beziehungsmodelle ist die Marktpreisbildung nirgendwo auch nur annähernd allgemein gültig, denn sie hängt von Alphabetisierung, Rechenfähigkeit und anderen erst in jüngerer Zeit entwickelten Informationstechnologien ab. Auch kognitiv bleibt die Logik der Marktpreisbildung unnatürlich – dies erkennt man schon an dem verbreiteten Widerstand gegen Zinsen und Profite, der bis zu Beginn der Neuzeit anhielt. Nach Fiskes Feststellungen kann man die Modelle auf einer Skala anordnen, in der sich mehr oder weniger die Reihenfolge ihrer Entstehung in Evolution, kindlicher Entwicklung und Geschichte widerspiegelt: Gemeinschaftliches Teilen → Autorität und Rangfolge → Herstellung von Gleichheit → Marktpreisbildung.
    Die Marktpreisbildung scheint mir weder für Märkte noch für die Preisbildung spezifisch zu sein. Man sollte sie eigentlich zusammen mit anderen Beispielen für eine formelle gesellschaftliche Organisation einordnen, die im Laufe der Jahrhunderte immer abgestimmt wurden und für Millionen Menschen eine gute Methode darstellen, um ihre Angelegenheiten in einer technisch hochentwickelten Gesellschaft zu regeln, ohne dass sie jedoch dem unbefangenen Geist spontan in den Sinn kommen würden. [1820] Eine dieser Institutionen ist der politische Apparat der Demokratie, in dem die Macht nicht einem starken Mann (einer Autorität) zugestanden wird, sondern Vertretern, die durch ein formelles Wahlverfahren bestimmt werden und deren Rechte durch ein System von Gesetzen umrissen sind. Andere sind Unternehmen, Universitäten und gemeinnützige Organisationen. Die Menschen, die dort arbeiten, können weder ihre Freunde und Verwandten ungehindert einstellen (Gemeinschaftsdenken) noch Gefälligkeiten verteilen (Herstellung von Gleichheit), sondern sind darin durch treuhänderische Pflichten und Bestimmungen eingeschränkt. Meine Korrekturen zu Fiskes Theorie sauge ich mir nicht aus den Fingern. Wie Fiske selbst anmerkt, bezog er eine intellektuelle Anregung für die Vorstellung von der Marktpreisbildung aus dem von dem Soziologen Max Weber geprägten Begriff einer »rational-legalen« (im Gegensatz zur traditionell-charismatischen) gesellschaftlichen Legitimation – einem System von Normen, das von der Vernunft konstruiert und durch formale Regeln umgesetzt wird. [1821]
    Bei allen Unterschieden in der Zusammenfassung und Aufteilung von Kategorien stimmen die Theorien von Shweder, Haidt und Fiske in der Frage, wie das Moralgefühl funktioniert, überein. Keine Gesellschaft definiert alltägliche Tugenden und Missetaten mit

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