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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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dass ich über ebenso viel Empathie verfüge wie jeder andere, kann ich nicht sagen, dass sie es ist, die mich davon abhält, meine Kritiker ermorden zu lassen, mit den Fäusten um einen freien Parkplatz zu kämpfen, meine Frau zu bedrohen, wenn sie mich darauf hinweist, dass ich etwas Dummes getan habe, oder mich dafür einzusetzen, dass mein Land gegen China in den Krieg zieht, damit es uns mit seiner Wirtschaftsleistung nicht überholt. Mein Geist hält nicht inne und grübelt darüber nach, wie es sich für die Opfer dieser verschiedenen Formen von Gewalt anfühlen würde, um dann ihre Schmerzen zu spüren und zurückzuzucken. Meine Gedanken gehen von vornherein nicht in eine solche Richtung; sie ist absurd, lächerlich, undenkbar. Für frühere Generationen dagegen waren dies keineswegs undenkbare Möglichkeiten. Der Rückgang der Gewalt dürfte zum Teil auf eine Erweiterung der Empathie zurückzuführen sein, vieles verdankt er aber auch handfesteren Fähigkeiten wie Klugheit, Vernunft, Fairness, Selbstbeherrschung, Normen und Tabus sowie dem Konzept der Menschenrechte.
    Dieses Kapitel handelt von den besseren Engeln in unserem Wesen: von psychologischen Fähigkeiten, die uns von Gewalt abhalten und deren zunehmende Wirkung man für den Rückgang der Gewalt verantwortlich machen kann. Empathie ist eine dieser Fähigkeiten, aber nicht die Einzige. Wie Hume schon vor mehr als 250  Jahren feststellte, ist die Existenz dieser Fähigkeiten nicht zu bestreiten. Man liest zwar manchmal, die Evolution des Wohlwollens sei für die Theorie der natürlichen Selektion ein Widerspruch, in Wirklichkeit wurde dieser Widerspruch aber schon vor Jahrzehnten aufgelöst. Über die Details wird immer noch gestritten, aber heute zweifelt kein Biologe mehr daran, dass eine Evolutionsdynamik mit Mutualismus, Verwandtschaft und verschiedenen Formen der Gegenseitigkeit zur Selektion psychologischer Eigenschaften führen kann, die Menschen unter den richtigen Umständen zu friedlicher Koexistenz veranlasst. [1647] Was Hume 1751 schrieb, gilt mit Sicherheit auch heute:
    Auch werden jene Denker, die so ernsthaft den überwiegenden Egoismus der Menschen behaupten, keinerlei Anstoß daran nehmen, wenn sie von den schwachen Gefühlen der Tugend hören, die in unserer Natur eingepflanzt sind. Im Gegenteil findet man, dass sie den einen Lehrsatz genauso bereitwillig wie den anderen vertreten, und ihr satirischer Geist (denn das scheint er eher zu sein als ein verdorbener) bringt von selbst beide Ansichten hervor, die tatsächlich eng und beinahe unlösbar miteinander verbunden sind. [1648]
    Wenn eine satirische Ader mich zu dem Nachweis veranlasst hat, dass um die Empathie heute ein zu großer Wirbel gemacht wird, möchte ich damit nicht leugnen, dass solche tugendhaften Empfindungen wichtig sind und in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Natur des Menschen stehen.
    Wer bis hierher acht Kapitel darüber gelesen hat, welche schrecklichen Dinge Menschen einander angetan haben und welche dunklen Seiten der menschlichen Natur den Antrieb dazu lieferten, hätte nun alles Recht der Welt, sich in einem Kapitel über unsere besseren Engel auf etwas Erbaulicheres zu freuen. Ich werde aber der Versuchung widerstehen, die Allgemeinheit mit einem allzu glücklichen Ende zu erfreuen. Die Gehirnteile, die unsere düsteren Impulse einschränken, gehörten auch zur Standardausrüstung unserer Vorfahren, die Sklaven hielten, Hexen verbrannten und Kinder schlugen; sie machen Menschen also nicht automatisch besser. Und die Behauptung, dass die schlechten Teile der menschlichen Natur uns Schlechtes tun lassen und die guten Teile uns Gutes tun lassen, wäre wohl kaum eine zufriedenstellende Erklärung für den Rückgang der Gewalt. (Den Krieg gewinne ich; den Frieden verlierst du.) Eine Untersuchung unserer besseren Engel muss nicht nur zeigen, wie sie uns von der Gewalt wegführen, sondern sie muss auch erklären, warum es ihnen so häufig nicht gelingt; es muss nicht nur klarwerden, in welcher Form sie zunehmend wirksam wurden, sondern auch, warum die Geschichte auf diese Wirkung so lange warten musste.

Moral und Tabu
    Es gibt in der Welt viel zu viel Moral. Addiert man alle Morde, die im Rahmen von Selbstjustiz begangen wurden, die Opfer von Religions- und Revolutionskriegen, die Menschen, die wegen Verbrechen ohne Opfer und Fehlverhalten hingerichtet wurden, und die Opfer ideologisch begründeter Völkermorde, so liegt ihre Zahl sicher höher als die

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