Gewalt
Umständen die Lockerung der Eisen in Rechnung gestellt, eine Hexe wurde in zwei Teile gesägt und ein Seemann wurde zu Brei geschlagen. Die moralischen Allgemeinplätze unserer Zeit, wonach beispielsweise Sklaverei, Krieg und Folter etwas Falsches sind, hätten damals als süßliche Sentimentalität gegolten, und unsere Vorstellung von allgemeinen Menschenrechten wäre nahezu unverständlich gewesen. Völkermord und Kriegsverbrechen kommen in den historischen Aufzeichnungen nur deshalb nicht vor, weil niemand sie zu jener Zeit für etwas Besonderes hielt. Aus unserer Sicht, fast sieben Jahrzehnte nach den Weltkriegen und Völkermorden in der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts, erkennen wir, dass diese Gräueltaten keine Vorboten von noch Schlimmerem waren, und ebenso waren sie kein neuer Normalzustand, an den die Welt sich gewöhnen musste; sie waren vielmehr ein vorübergehender Höhepunkt, von dem es holprig abwärts ging. Und die dahinterstehenden Ideologien waren nicht mit der Modernität verwoben, sondern es waren Anachronismen, die schließlich in der Mülltonne der Geschichte endeten.
Die Kräfte der Moderne – Vernunft, Wissenschaft, Humanismus, individuelle Rechte – haben natürlich nicht stetig nur in eine Richtung gezielt; sie werden auch nie in ein Utopia führen oder die Reibungen und Verwundungen beenden, die mit dem Menschsein einhergehen. Aber zu allen Nutzeffekten, die uns die Moderne bei Gesundheit, Erfahrung und Wissen gebracht hat, können wir ihre Rolle bei der Verminderung der Gewalt hinzunehmen.
Für die Autoren, denen der Rückgang der Gewalt tatsächlich aufgefallen ist, waren sein schierer Umfang und seine Wirkung in so vielen Zeitmaßstäben und Größenordnungen mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben. James Payne schrieb, er sei versucht, eine »höhere Macht am Werk zu sehen«, und der Prozess erscheine ihm »fast magisch«. [1956] Robert Wright wäre um ein Haar der Versuchung erlegen: Er fragte sich, ob der Rückgang der Nullsummen-Konkurrenz ein »Beleg für etwas Göttliches« sei, ein Zeichen für einen »von Gott vermittelten Sinn« oder eine Geschichte von einem »kosmischen Urheber«. [1957]
Ich kann der Versuchung leicht widerstehen, aber auch ich bin der Ansicht, dass die vielen Datenbestände, denen zufolge die Gewalt in Wellenlinien nach unten geht, ein bedenkenswertes Rätsel darstellen. Was sollen wir von dem Eindruck halten, dass die Menschheitsgeschichte einen Richtungspfeil hat? Wo, so können wir mit Recht fragen, steht dieser Richtungspfeil, und wer hat ihn aufgestellt? Und wenn die Tatsache, dass so viele historische Kräfte in eine positive Richtung weisen, nicht auf einen göttlichen Schildermaler schließen lässt: Ist sie dann vielleicht eine Bestätigung für die Vorstellung von moralischem Realismus – gibt es irgendwo reale moralische Wahrheiten, die wir nur entdecken müssen, genau wie wir die Wahrheiten von Wissenschaft und Mathematik entdecken? [1958]
Nach meiner eigenen Überzeugung wird zumindest das Rätsel durch das Pazifistendilemma aufgeklärt: Es zeigt, wie die nicht zufällige Richtung der Geschichte ihre Wurzeln in einem Aspekt der Realität hat, der über unsere Vorstellungen von Moral und Zweck mitbestimmt. Unsere Spezies wurde in das Dilemma hineingeboren, weil unsere Interessen letztlich unterschiedlich sind, weil unser verletzlicher Körper uns zu einem leichten Ziel der Ausbeutung macht, und weil der Anreiz, Ausbeuter statt Ausgebeuteter zu sein, alle Seiten zur Strafe zu einem Konflikt verurteilt. Einseitiger Pazifismus ist eine Verliererstrategie, und gemeinsamer Frieden liegt für alle außerhalb der Reichweite. Diese Verhältnisse sind zum Verrücktwerden, sie liegen aber in der mathematischen Struktur der Profite begründet, und in diesem Sinne gehören sie zum Wesen der Realität. Es ist kein Wunder, dass die alten Griechen die Launen der Götter für ihre Kriege verantwortlich machten oder dass Juden und Christen sich auf eine moralistische Gottheit beriefen, die den Profit im Jenseits neu gestaltet und so die wahrgenommene Anreizstruktur in dieser Welt verändert.
Das Wesen der Menschen, wie die Evolution es hinterlassen hat, ist der Herausforderung, uns in die gesegnet-friedliche Ecke links oben in dem Raster zu befördern, nicht gewachsen. Motive wie Habgier, Angst, Dominanzstreben und Wollust drängen uns immer wieder in Richtung der Aggression. Und auch wenn die Drohung der Vergeltung nach dem Motto »Wie du mir,
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