Gewalt
Person ausmalt, als wären es die eigenen. Nach dem Zweiten steigt man zu einem olympischen, superrationalen Standpunkt auf – zur Blickweise der Ewigkeit, dem Blick aus dem Nirgendwo – und betrachtet von dort aus die eigenen Interessen und die eines anderen als gleichwertig.
Die Rolltreppe der Vernunft hat noch eine zusätzliche äußere Antriebskraft: das Wesen der Realität mit ihren logischen Beziehungen und empirischen Tatsachen, die von der psychologischen Befindlichkeit der Denker, die sie zu begreifen versuchen, unabhängig sind. Als Menschen die Institutionen von Wissen und Vernunft immer feiner abstimmten und Aberglauben und Widersprüche aus ihren Glaubenssystemen tilgten, mussten sich daraus bestimmte Schlussfolgerungen ergeben, ganz ähnlich wie man zu bestimmten Summen und Produkten gelangt, wenn man die Gesetze der Arithmetik beherrscht (Kapitel 4 und 9 ). Und in vielen Fällen handelt es sich dabei um Schlussfolgerungen, die Menschen dazu veranlassen, weniger Gewalttaten zu begehen.
In diesem Buch haben wir immer wieder erfahren, welche nützlichen Folgen es hat, wenn man die Vernunft auf die Angelegenheiten der Menschen anwendet. Zu verschiedenen historischen Zeitpunkten entfielen Tötungen aus Aberglauben, beispielsweise Menschenopfer, Hexenjagd, Blutbeschuldigungen, Inquisition und die Suche nach ethnischen Sündenböcken, weil die Tatsachenvermutungen, auf denen sie beruhten, der genauen Prüfung einer geistig höher entwickelten Bevölkerung nicht mehr standhielten (Kapitel 4 ). Sorgfältig durchdachte Widersprüche gegen Sklaverei, Despotismus, Folter, religiöse Verfolgung, Grausamkeit gegen Tiere, Härte gegen Kinder, Gewalt gegen Frauen, leichtfertige Kriege und die Verfolgung Homosexueller waren nicht nur heiße Luft, sondern sie flossen in die Entscheidungen der Menschen und Institutionen ein, die sich mit den Argumenten befassten und Reformen umsetzten (Kapitel 4 und 7 ).
Natürlich ist es nicht immer einfach, Mitgefühl von Vernunft, Herz von Kopf zu unterscheiden. Aber Empathie hat mit ihrer Zuneigung zu Menschen, die wie wir sind und uns nahestehen, nur eine begrenzte Reichweite; deshalb liegt die Vermutung nahe, dass der verallgemeinernde Schub der Vernunft hinzukommen muss, damit in Handlungsweisen und Normen ein Wandel einsetzt, durch den sich die Gewalt in der Welt tatsächlich vermindert (Kapitel 9 ). Dieser Wandel umfasst nicht nur das juristische Verbot von Gewalttaten, sondern auch eine Gestaltung der Institutionen, durch die sich die Versuchung, Gewalt auszuüben, verringert. Zu diesen ausgetüftelten Einrichtungen gehören demokratische Regierungen, die Kant’schen Schutzmaßnahmen gegen Krieg, Versöhnungsbewegungen in Entwicklungsländern, gewaltlose Widerstandsbewegungen, internationale Friedensmissionen, die Reformen der 1990 er Jahre zur Verbrechensvorbeugung und Wiederzivilisierung, aber auch Eindämmungsstrategien, Sanktionen und wachsames Engagement, die den Staatenlenkern heute mehr Möglichkeiten an die Hand geben als nur das Feiglingsspiel, das zum Ersten Weltkrieg führte, oder die Besänftigungspolitik, die dem Zweiten vorausging (Kapitel 3 bis 8 ).
Eine weiter gefasste, allerdings auch mit vielen Rückschlägen, Umkehrungen und Verweigerungshaltungen verbundene Auswirkung der Vernunft-Rolltreppe ist eine Bewegung, die von Stammesdenken, Autoritätshörigkeit und der Reinheit moralischer Systeme in Richtung von Humanismus, klassischem Liberalismus, Selbstbestimmung und Menschenrechten führt (Kapitel 9 ). Ein humanistisches Wertesystem, das dem Gedeihen der Menschen die Stellung des höchsten Gutes einräumt, ist ein Produkt der Vernunft, weil es sich
rechtfertigen
lässt: Auf ein solches System kann sich jede Gemeinschaft denkender Menschen einigen, die ihren eigenen Interessen einen hohen Wert beimessen und in vernünftige Verhandlungen eintreten; gemeinschaftsbezogene oder autoritäre Werte dagegen sind auf einen Stamm oder eine Hierarchie beschränkt (Kapitel 4 und 9 ).
Wenn ganz unterschiedliche Menschen durch kosmopolitische Strömungen ins Gespräch kommen, wenn Redefreiheit die Möglichkeit schafft, dass die Diskussion in jede beliebige Richtung geht, und wenn man die gescheiterten Experimente der Geschichte durchleuchtet, spricht alles dafür, dass Wertsysteme sich in Richtung eines liberalen Humanismus entwickeln (Kapitel 4 bis 9 ). Dies haben wir an mehreren Beispielen beobachtet, so in jüngster Zeit am Niedergang totalitärer Ideologien
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