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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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so ich dir« als wichtige Umgehungsstrategie das Potential hat, bei einer Wiederholung des Spiels für Kooperation zu sorgen, wird sie in der Praxis durch selbstwertdienliche Voreingenommenheiten falsch eingestellt, und dann führt sie häufig nicht zu stabiler Abschreckung, sondern zu einem Kreislauf der Konflikte.
    Aber die Natur des Menschen beinhaltet auch Motive wie Mitgefühl und Selbstbeherrschung, die uns veranlassen, uns in das friedliche Kästchen des Rasters zu begeben. Sie umfasst Kommunikationskanäle wie die Sprache. Und sie ist mit einem System für ergebnisoffene kombinatorische Überlegungen ausgestattet. Wenn das System in der Feuerprobe der Diskussion verfeinert wird und wenn seine Produkte sich durch Literatur und andere Formen der kulturellen Überlieferung ansammeln, kann ich mir durchaus Wege vorstellen, wie sich die Profitstruktur verändern und das friedliche Kästchen immer attraktiver werden könnte. Nicht die schlechteste derartige Taktik ist der superrationale Appell an ein anderes abstraktes Merkmal der Realität: die Austauschbarkeit der Perspektiven, die Tatsache, dass unsere engstirnigen Blickwinkel nichts Besonderes sind; beides trägt zur Abschwächung des Dilemmas bei, weil sich die Profite beider Antagonisten vermischen.
    Nur ein aufgeblasenes Gefühl für unsere eigene Wichtigkeit kann den Wunsch, dem Pazifistendilemma zu entkommen, zu einem übergeordneten Ziel des Kosmos machen. Aber anscheinend steht der Wunsch tatsächlich mit Gegebenheiten der Welt in Verbindung, die nicht ausschließlich physikalischer Natur sind, und damit unterscheidet er sich von den Bestrebungen, die zur Mutter anderer Erfindungen wie Zucker-Raffinade oder Zentralheizung wurden. Die verrückt machende Struktur des Pazifistendilemmas ist ein abstrakter Aspekt der Realität. Das Gleiche gilt für seine umfassendste Lösung, die Austauschbarkeit der Perspektiven: Sie ist das Prinzip hinter der Goldenen Regel, und Entsprechungen zu ihr wurden in vielen Moraltraditionen wiederentdeckt. Unsere kognitiven Prozesse haben sich im Laufe unserer Geschichte immer mit diesen Aspekten der Realität herumgeschlagen, genau wie sie mit den Gesetzen der Logik und Geometrie zu kämpfen hatten.
    Dass wir der zerstörerischen Konkurrenz entkommen, ist also kein kosmisches, wohl aber ein menschliches Ziel. Religionsvertreter behaupteten lange, ohne göttliche Anordnungen könne Moral außerhalb unserer selbst keine Grundlage haben. Menschen könnten nur egoistische Interessen verfolgen, die vielleicht durch Geschmack oder Mode abgewandelt werden, sie seien aber zu einem Leben des Relativismus und Nihilismus verurteilt. Jetzt können wir erkennen, warum eine solche Argumentation falsch ist. Die Entdeckung irdischer Wege, auf denen Menschen gedeihen können, darunter auch Strategien zur Überwindung der Tragödie des Reizes, der der Aggression innewohnt, sollte für alle ein ausreichendes Ziel sein. Es ist ein edleres Ziel als die Mitgliedschaft in einem himmlischen Chor, die Verschmelzung mit einem kosmischen Geist oder die Wiedergeburt als höhere Lebensform, denn dieses Ziel wird nicht willkürlichen Gruppen durch Charisma, Tradition oder Gewalt übergestülpt, sondern man kann es gegenüber jedem anderen denkenden Menschen rechtfertigen. Und die in diesem Buch dargelegten Daten zeigen, dass es ein Ziel ist, bei dem man Fortschritte machen kann – zögernde und unvollständige Fortschritte zwar, aber unverkennbare Fortschritte zweifellos.
     
    Ein letzter Gedanke. In diesem Buch habe ich mir eine analytische und manchmal respektlose Stimme zu eigen gemacht, denn nach meiner Überzeugung war das Thema oftmals ein Anlass für zu viel Frömmigkeit und zu wenig Verständnis. Aber an keiner Stelle habe ich die Realität hinter den Zahlen aus den Augen verloren. Wenn man die Geschichte der Gewalt überblickt, ist man immer wieder verblüfft darüber, wie grausam und verschwenderisch alles ist, und gelegentlich wird man von Wut, Ekel und unermesslicher Traurigkeit übermannt. Ich weiß, dass hinter den Diagrammen ein junger Mann steht, der einen stechenden Schmerz spürt und zusieht, wie das Leben langsam aus ihm weicht, der weiß, dass ihm Jahrzehnte seiner Existenz geraubt wurden. Da ist das Folteropfer, dessen Bewusstseinsinhalte durch unerträgliche Qualen verdrängt wurden, bis nur noch Raum für den Wunsch bleibt, das Bewusstsein selbst möge schwinden. Da ist die Frau, die erfahren hat, dass ihr Mann, ihr Vater und ihre

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