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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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in einem abgelegenen Dorf gewohnt hätte: Er packte einfach seine Sachen, zog in eine neue Gegend und ließ sich schließlich in Leiden nieder, einer anderen toleranten niederländischen Stadt. An beiden Orten wurde er in der Gemeinschaft der Schriftsteller, Denker und Künstler freundlich aufgenommen. Für John Locke wurde Amsterdam 1683 zum sicheren Zufluchtsort, nachdem man ihn in England verdächtigt hatte, an einer Verschwörung gegen König Charles  II . beteiligt gewesen zu sein. Auch René Descartes wechselte häufig die Adressen und pendelte zwischen Holland und Schweden, wenn es ihm an seinem jeweiligen Wohnort zu gefährlich wurde.
    Der Wirtschaftswissenschaftler Edward Glaeser führte die Entstehung liberaler Demokratien auf den Aufschwung der Großstädte zurück. [468] Selbstherrliche Unterdrücker können wegen eines Problems, das Wirtschaftswissenschaftler soziales Dilemma oder Trittbrettfahrerproblem nennen, selbst dann an der Macht bleiben, wenn ihre Bürger sie verachten. In einer Diktatur besteht für den Autokraten und seine Handlanger ein großer Anreiz, an der Macht festzuhalten, aber kein einzelner Bürger hat ein starkes Bestreben, sie loszuwerden, denn damit würde er das gesamte Risiko auf sich ziehen, dass der Diktator sich rächt, während der Nutzen der Demokratie allen im Lande zugute kommt. Im Schmelztiegel einer Stadt dagegen treffen Fachleute, Anwälte, Autoren, Verleger und gut vernetzte Kaufleute zusammen, die sich in Kneipen und Gildenhäusern darauf verständigen können, die derzeitige Führung in Frage zu stellen, wobei sie sich die Arbeit und damit auch das Risiko teilen. Das antike Athen, das Venedig der Renaissance, Boston und Philadelphia in der Revolutionszeit sowie die Metropolen der Niederlande sind Beispiele dafür, wie neue Demokratien in Städten begründet wurden; heute gehen Urbanisierung und Demokratie in der Regel Hand in Hand.
    Den politischen und religiösen Tyrannen entging nicht, welche subversive Kraft die Ströme der Informationen und Menschen entfalten können. Deshalb unterdrücken sie die freie Meinungsäußerung, Schriften und Vereinigungen, und es ist auch der Grund, warum Demokratien diese Übertragungskanäle in ihren Verfassungen schützen. Vor dem Aufschwung der Städte und der Verbreitung der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben war es viel schwieriger, sich befreiende Ideen überhaupt auszudenken und zu verbinden; deshalb gebührt auch dem wachsenden Weltbürgertum im 17 . und 18 . Jahrhundert ein Teil des Verdienstes für die Humanitäre Revolution.
     
    Wenn Menschen und Ideen zusammenfinden, ist damit natürlich noch nicht festgelegt, wie die Ideen sich entwickeln. Der Aufstieg der Gelehrtenrepublik und der kosmopolitischen Städte ist also für sich betrachtet noch keine Erklärung dafür, warum im 18 . Jahrhundert eine humanitäre Ethik entstand und nicht immer erfindungsreichere, rationale Begründungen für Folter, Sklaverei, Diktatur und Krieg.
    Nach meiner Auffassung sind die beiden Entwicklungen tatsächlich gekoppelt. Wenn eine ausreichend große Gemeinschaft freier, rational denkender Menschen sich darüber austauscht, wie eine Gesellschaft ihre Angelegenheiten regeln sollte, und wenn die Beteiligten sich dabei von logischer Widerspruchsfreiheit und den Rückmeldungen aus der Welt leiten lassen, wird ihr Konsens in bestimmte Richtungen weisen. Genau wie wir nicht erklären müssen, warum Molekularbiologen entdeckten, dass es in der DNA vier Basen gibt – wenn sie ordnungsgemäß molekularbiologisch arbeiten und wenn die DNA tatsächlich vier Basen hat, hätten sie auf lange Sicht kaum etwas anderes entdecken können –, so müssen wir vielleicht auch nicht erklären, warum die aufgeklärten Denker sich schließlich gegen die Sklaverei in Afrika, grausame Bestrafungen, despotische Monarchen und die Hinrichtung von Hexen oder Ketzern aussprachen. Wenn solche Praktiken von leidenschaftslosen, rationalen, gebildeten Denkern ausreichend genau untersucht werden, lassen sie sich nicht unbegrenzt rechtfertigen. Das Reich der Ideen, in dem eine Idee andere nach sich zieht, ist an sich eine äußere Kraft, und sobald eine Gemeinschaft von Denkern dieses Reich betritt, werden sie in bestimmte Richtungen gelenkt, unabhängig von ihrer realen Umgebung. Nach meiner Überzeugung war dieser Prozess der ethischen Entdeckungen eine wichtige Ursache für die Humanitäre Revolution.
    Ich bin bereit, diese Erklärung noch einen Schritt weiter zu

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