Gewalt
treiben. Dass es mit so vielen gewalttätigen Institutionen in so kurzer Zeit bergab ging, lag daran, dass die gegen sie gerichteten Argumente zu einer einheitlichen Philosophie gehörten, die sich während des Zeitalters von Vernunft und Aufklärung entwickelte. Die Ideen von Denkern wie Hobbes, Spinoza, Descartes, Locke, David Hume, Mary Astell, Kant, Beccaria, Smith, Mary Wollstonecraft, Madison, Jefferson, Hamilton und John Stuart Mill wuchsen zu einer Weltanschauung zusammen, die wir als aufgeklärten Humanismus bezeichnen können. (Manchmal wird sie auch klassischer Liberalismus genannt, aber das Wort
Liberalismus
hat seit den 1960 er Jahren auch andere Bedeutungen angenommen.) Im Folgenden möchte ich diese Philosophie kurz zusammenfassen und eine grobe, aber mehr oder weniger einheitliche Mischung der Ansichten dieser aufgeklärten Denker präsentieren.
Am Anfang stand der Skeptizismus. [469] Aus der Geschichte menschlicher Torheiten und unserer eigenen Anfälligkeit für Illusionen und Täuschungen können wir lernen, dass Männer und Frauen fehlbar sind. Man muss deshalb nach guten
Gründen
suchen, warum man etwas glaubt. Glaube, Offenbarung, Tradition, Dogma, Autoritäten, der verzückte Schimmer einer subjektiven Überzeugung – all das sind Rezepte für den Irrtum, und man sollte sie als Quellen für Wissen verwerfen.
Gibt es überhaupt irgendetwas, dessen wir uns sicher sein können? Descartes gab darauf eine Antwort, wie sie besser nicht sein konnte: unser eigenes Bewusstsein. Da ich mich frage, was ich wissen kann, weiß ich, dass ich meiner bewusst bin, und ich kann auch wissen, dass mein Bewusstsein verschiedene Formen von Erfahrungen umfasst. Dazu gehören die Wahrnehmung einer Außenwelt und anderer Menschen, verschiedene Freuden und Schmerzen, die einerseits sinnlicher Natur (beispielsweise Essen, Trost und Sex), andererseits aber auch spirituell (Liebe, Wissen oder die Wertschätzung für Schönheit) sein können.
Außerdem sind wir der Vernunft verpflichtet. Wenn wir eine Frage stellen, mögliche Antworten bewerten und uns bemühen, andere vom Wert dieser Antworten zu überzeugen, denken wir vernünftig; damit haben wir uns stillschweigend dem Wert der Vernunft verpflichtet. Ebenso haben wir uns allen Schlussfolgerungen verpflichtet, die sich, wie die Lehrsätze von Mathematik und Logik, aus der sorgfältigen Anwendung der Vernunft ergeben.
Zwar können wir nichts in der Welt logisch
beweisen
, wir haben aber das Recht, in bestimmte Ansichten über die Welt
Vertrauen
zu haben. Die Anwendung von Vernunft und Beobachtung zur Entdeckung vorläufiger, allgemeiner Aussagen über die Welt bezeichnen wir als Naturwissenschaft. Der Fortschritt der Naturwissenschaft mit ihren atemberaubenden Erfolgen bei der Erklärung und Beeinflussung der Welt zeigt, dass man Kenntnisse über das Universum gewinnen kann, die allerdings immer nur Wahrscheinlichkeiten darstellen und revidiert werden können. Deshalb ist Wissenschaft ein Paradigma dafür, wie wir Kenntnisse erwerben sollen, aber damit sind nicht die einzelnen Methoden oder Institutionen der Wissenschaft gemeint, sondern ihr Wertesystem: Es geht darum, die Welt zu erklären, in Frage kommende Erklärungen objektiv zu bewerten und zu jedem Zeitpunkt den vorläufigen Charakter und die Unsicherheit unserer Kenntnisse anzuerkennen.
Die Unverzichtbarkeit der Vernunft besagt nicht, dass Individuen immer rational sind oder nicht von Leidenschaften und Illusionen beeinflusst werden. Sie besagt nur, dass die Menschen zur Vernunft
befähigt
sind und dass eine Gemeinschaft, die diese Eigenschaft perfektionieren und sie offen und fair ausüben möchte, gemeinsam durch Vernunft auf lange Sicht zu immer besser fundierten Schlussfolgerungen gelangen kann. Wie Lincoln bemerkte, kann man alle Menschen eine Zeitlang und manche Menschen für immer zum Narren halten, aber nicht alle Menschen für immer.
Eine der Ansichten über die Welt, der wir in höchstem Maße sicher sein können, ist die, dass andere Menschen so wie wir selbst ein Bewusstsein haben. Andere Menschen bestehen aus dem gleichen Stoff, verfolgen die gleichen Ziele und reagieren auf Ereignisse, die bei jedem von uns Schmerzen oder Freude verursachen, mit äußeren Zeichen von Freude und Schmerzen.
Nach dem gleichen Prinzip können wir auch vermuten, dass Menschen, die sich von uns in vielen oberflächlichen Aspekten – Geschlecht, Rasse, Kultur – unterscheiden, uns in grundsätzlicher Hinsicht
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