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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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im Laufe der Geschichte zu den Ersten und die Ersten zu den Letzten werden können, erzieht uns auch zu dem Gedanken »das hätte auch mir passieren können«.
    Dass die Leser aus ihrer engstirnigen Sichtweise befreit werden, ist nicht nur ein Effekt der Sachliteratur. Von der Rolle satirisch-fiktiver Texte war bereits die Rede: Sie versetzen die Leser in eine hypothetische Welt, von der aus sie die Torheiten ihres eigenen Umfeldes beobachten können; auch das ist wahrscheinlich eine wirksame Methode, um die Empfindlichkeiten der Menschen zu beeinflussen, ohne ihnen in den Ohren zu liegen oder zu moralisieren.
    Realistische Belletristik wiederum kann bei den Lesern den Geltungsbereich des Mitgefühls erweitern, weil sie dazu verleitet werden, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt von Menschen, die ganz anders sind als sie selbst, hineinzuversetzen. Jeder Student der Literaturwissenschaft lernt, dass das 18 . Jahrhundert in der Geschichte des Romans einen Wendepunkt darstellt. Der Roman wurde zu einer Form der Massenunterhaltung, und am Ende des Jahrhunderts erschienen allein in England und Frankreich jedes Jahr nahezu 100 neue Romane. [459] Und im Gegensatz zu früheren literarischen Werken, in denen die Taten von Helden, Adligen oder Heiligen geschildert wurden, nahmen diese Bücher den Leser mit zu den Bestrebungen und Verlusten ganz normaler Menschen.
    Lynn Hunt machte darauf aufmerksam, dass die Blütezeit der Humanitären Revolution am Ende des 18 . Jahrhunderts auch die Blütezeit der Briefromane war. In diesem Genre entfaltet sich die Handlung in den eigenen Worten einer Hauptperson und legt deren Gedanken und Gefühle unmittelbar offen, statt sie aus der distanzierten Perspektive eines körperlosen Erzählers zu beschreiben. In der Mitte dieses Jahrhunderts wurden drei melodramatische Romane, die als Titel die Namen der weiblichen Hauptpersonen tragen, zu unerwarteten Bestsellern:
Pamela
( 1740 ) und
Clarissa
( 1748 ) von Samuel Richardson und
Julie oder die neue Heloise
von Rousseau ( 1761 ). Erwachsene Männer brachen in Tränen aus, wenn sie die verbotene Liebe, den tragischen Tod, die unerträglichen arrangierten Ehen und die grausamen Schicksalswendungen im Leben einfacher Frauen (darunter auch Dienerinnen) miterlebten, mit denen sie nichts gemeinsam hatten. Ein pensionierter Offizier schwärmte in einem Brief an Rousseau:
    Sie haben mich ihretwegen verrückt gemacht. Stellen Sie sich vor, welche Tränen ihr Tod mir entlockt haben muss … nie zuvor habe ich solch köstliche Tränen vergossen. Die Lektüre hatte eine so machtvolle Wirkung auf mich, dass ich glaube, ich wäre in diesem erhabenen Augenblick mit Freuden gestorben. [460]
    Die
philosophes
der Aufklärung priesen die Romane, die beim Leser zur Identifikation mit anderen und zum Mitgefühl für sie führten. In seinem Nachruf auf Richardson schrieb Diderot:
    Man nimmt trotz aller Vorbehalte eine Rolle in seinen Werken an, man stürzt sich in die Gespräche, man stimmt zu, man beschuldigt, man bewundert, man ist verwirrt, man fühlt sich verärgert. Wie viele Male habe ich mich nicht selbst überrascht, wie es Kindern ergeht, die zum ersten Mal mit ins Theater genommen werden und schreien: ›Glaube es nicht, er täuscht dich‹ … Seine Gestalten sind der gewöhnlichen Gesellschaft entnommen … Die Leidenschaften, die er darstellt, sind jene, die ich auch in mir selbst spüre. [461]
    Der Klerus dagegen verurteilte natürlich solche Romane und setzte mehrere davon auf den Index der verbotenen Bücher. Ein katholischer Geistlicher schrieb: »Man braucht diese Werke nur aufzuschlagen, dann stellt man fast in allen fest, dass die Rechte der göttlichen und menschlichen Justiz verletzt werden, dass die Autorität der Eltern gegenüber ihren Kindern verhöhnt wird, dass die heiligen Bande von Ehe und Freundschaft gebrochen werden.« [462]
    Hunt macht eine Kausalkette aus: Die Lektüre von Romanen, deren Gestalten anders sind als man selbst, übt die Fähigkeit, sich selbst in andere hineinzuversetzen, und dann wendet man sich gegen grausame Bestrafungen oder andere Menschenrechtsverletzungen. Wie gewöhnlich, lassen sich andere Erklärungen für den Zusammenhang nur schwer ausschließen. Vielleicht wurden die Menschen aus anderen Gründen mitfühlender, wobei sie gleichzeitig aufnahmebereiter für Romane wurden und sich größere Sorgen um die Misshandlung anderer machten.
    Aber die Hypothese über den vollständigen Kausalzusammenhang

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