Gewalt
dürfte mehr sein als nur eine Phantasie von Englischlehrern. Die Ereignisse haben die richtige Reihenfolge: technischer Fortschritt im Verlagswesen, Massenproduktion von Büchern, Verbreitung der Alphabetisierung und die Beliebtheit von Romanen – all das ging den wichtigen humanitären Reformen des 18 . Jahrhunderts voraus. Und in manchen Fällen brachten gut verkaufte Romane oder Memoiren die Leser nachweislich mit den Leiden einer vergessenen Gruppe von Opfern in Berührung und führten zu einer Veränderung der Politik. Ungefähr zur gleichen Zeit, als
Onkel Toms Hütte
in den Vereinigten Staaten die Bestrebungen zur Abschaffung der Sklaverei mobilisierten, öffneten
Oliver Twist
( 1838 ) und
Nicholas Nickleby
( 1839 ) von Charles Dickens den Menschen die Augen für die Kindesmisshandlung in britischen Arbeits- und Waisenhäusern, und das 1840 erschienene Buch
Zwei Jahre vor’m Mast
von Richard Henry Dana und Herman Melvilles
Weißjacke
( 1850 ) trugen dazu bei, dass Seeleute nicht mehr ausgepeitscht wurden. Im vergangenen Jahrhundert lenkte eine ganze Reihe von Romanen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das Leiden von Menschen, die man ansonsten vielleicht nicht weiter beachtet hätte:
Im Westen nichts Neues
von Erich Maria Remarque,
1984
von George Orwell,
Sonnenfinsternis
von Arthur Koestler,
Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
von Alexander Solschenizyn,
Wer die Nachtigall stört
von Harper Lee,
Die Nacht zu begraben
von Elie Wiesel,
Schlachthof 5
von Kurt Vonnegut,
Wurzeln
von Alex Haley,
Rote Azalee
von Anchee Min,
Lolita lesen in Teheran
von Azar Nafisi und
Sie hüten das Geheimnis des Glücks
(ein Roman, in dem es um die Genitalverstümmelung bei Frauen geht) von Alice Walker. [463] Kino und Fernsehen erreichten sogar noch größere Zuschauergruppen und ermöglichten Erfahrungen, die noch unmittelbarer waren. In Kapitel 9 werden wir Experimente kennenlernen, mit denen bestätigt wurde, dass eine fiktive Erzählung das Mitgefühl der Menschen wecken und sie zum Handeln veranlassen kann.
Ob nun Romane im Allgemeinen oder Briefromane im Besonderen das entscheidende Genre waren, das zur Erweiterung des Mitgefühls beitrug: Die explosionsartige Verbreitung des Lesens dürfte eine Ursache der Humanitären Revolution gewesen sein, denn durch Lesen eigneten die Menschen sich die Gewohnheit an, ihren eigenen, engstirnigen Blickpunkt zu verlassen. Darüber hinaus dürfte das Lesen auf einem zweiten Weg zur Humanitären Revolution beigetragen haben: Es schuf einen Schmelztiegel für neue Ideen über moralische Werte und die gesellschaftliche Ordnung.
Die Gelehrtenrepublik und der Aufstieg des aufgeklärten Humanismus
In dem 1988 erschienenen Roman
Schnitzeljagd
von David Lodge erklärt ein Professor, warum er die Eliteuniversität für überholt hält:
Weil Information in der modernen Welt sehr viel transportabler geworden ist. Genau wie Menschen. … Drei Dinge … haben in den letzten zwanzig Jahren das akademische Leben revolutioniert: das Düsenflugzeug, die telefonische Direktwahl und der Fotokopierer. … Hauptsache, Sie haben Zugang zu einem Telefon, einem Kopierer und einem Tagungsfonds, dann sind Sie an die einzige Hochschule angeschlossen, auf die’s wirklich ankommt – den globalen Campus. [464]
Damit hat Morris Zapp nicht ganz unrecht, aber er legt zu großes Gewicht auf die einzelnen Technologien der 1980 er Jahre. Zwei Jahrzehnte nachdem diese Worte geschrieben wurden, sind sie schon wieder Randerscheinungen, verdrängt von E-Mail, digitalen Dokumenten, Websites, Blogs, Telefonkonferenzen, Skype und Smartphones. Und zwei Jahrhunderte
bevor
sie verfasst wurden, hatte die Technologie jener Zeit – Segelschiffe, gedruckte Bücher und Postdienste – Informationen und Menschen ebenfalls bereits besser transportierbar gemacht. Das Ergebnis war das gleiche: eine globale Wissenschaftslandschaft, ein öffentlicher Bereich oder, wie man im 17 . und 18 . Jahrhundert sagte, eine Gelehrtenrepublik.
Jeder Leser, der sich im 21 . Jahrhundert eingehender mit der Geistesgeschichte beschäftigt, muss einfach von der Blogosphäre des 18 . Jahrhunderts beeindruckt sein. Sobald ein Buch erschien, war es ausverkauft; es wurde nachgedruckt, in ein halbes Dutzend anderer Sprachen übersetzt und gab den Anlass zu einer Fülle von Kommentaren in Flugschriften, Leserbriefen und weiteren Büchern. Denker wie Locke und Newton schreiben Zehntausende von Briefen; allein Voltaire verfasste mehr als
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