Gewalt
moralischen Prinzip, dass kein Mensch einen Grund hat, seine Interessen gegenüber denen anderer zu bevorzugen, können wir viele Erkenntnisse über die Regelung unserer Angelegenheiten ableiten. Eine Regierung ist etwas Gutes, denn im Zustand der Anarchie würden das Eigeninteresse und die Selbsttäuschung der Menschen sowie die Angst vor diesen Schwächen bei anderen zu einem ständigen Kampf führen. Den Menschen geht es besser, wenn sie der Gewalt abschwören, vorausgesetzt, alle erklären sich dazu bereit und übertragen die Autorität einer unparteiischen dritten Instanz. Da aber diese dritte Instanz nicht aus Engeln, sondern aus Menschen besteht, muss ihre Macht ebenfalls durch die Macht anderer Menschen in Schach gehalten werden, damit sie ihre Herrschaft mit Zustimmung der Beherrschten ausübt. Gewalt gegenüber ihren Bürgern dürfen sie nur insoweit ausüben, wie es unbedingt notwendig ist, um größere Gewalt zu verhindern. Und sie sollten Abkommen begünstigen, mit deren Hilfe die Menschen durch Kooperation und freiwilligen Austausch gedeihen können.
Eine solche Denkweise kann man als Humanismus bezeichnen, denn sie erkennt als einzigen Wert, der sich nicht leugnen lässt, das Wohlergehen der Menschen an. Ich erlebe Freude und Schmerz und verfolge in ihrem Dienste meine Ziele; deshalb kann ich vernünftigerweise keinem anderen empfindungsfähigen Akteur das Recht absprechen, das Gleiche zu tun.
Wer das alles banal und selbstverständlich findet, ist ein Kind der Aufklärung und hat sich die humanistische Philosophie zu eigen gemacht. Unter historischen Gesichtspunkten ist es alles andere als banal oder selbstverständlich. Der aufgeklärte Humanismus ist zwar nicht zwangsläufig atheistisch (er verträgt sich mit einem Deismus, der Gott mit der Natur des Universums gleichsetzt), er hat aber keine Verwendung für heilige Schriften, Jesus, Rituale, religiöse Gesetze, göttliche Zwecke, unsterbliche Seelen, ein Jenseits, ein messianisches Zeitalter oder einen Gott, der einzelnen Menschen antwortet. Ebenso fegt er viele säkulare Quellen von Wertvorstellungen beiseite, von denen sich nicht nachweisen lässt, dass sie dazu beitragen, das Wohlergehen der Menschen zu verbessern. Dazu gehören das Ansehen der Nation, Rasse oder sozialen Schicht; zum Fetisch erhobene Tugenden wie Männlichkeit, Würde, Heldentum, Ruhm und Ehre; und andere mystische Kräfte, Bestrebungen, Bestimmungen, Dialektiken und Kämpfe.
Nach meiner Ansicht bildete der Humanismus der Aufklärung, auf den man sich entweder ausdrücklich oder unausgesprochen berief, die Grundlage der vielfältigen humanitären Reformen des 18 . und 19 . Jahrhunderts. Ausdrücklich ins Feld geführt wurde diese Philosophie bei der Gestaltung der ersten liberalen Demokratien – am auffälligsten in den »offensichtlichen Wahrheiten« der US -amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Später verbreitete sie sich in andere Regionen der Welt und vermischte sich mit humanistischen Gedanken, die sich in diesen Kulturkreisen unabhängig davon entwickelt hatten. [472] Und wie wir in Kapitel 7 noch genauer erfahren werden, gewann sie mit der Revolution der Rechte in der jüngsten Zeit wieder an Schubkraft.
Trotz alledem setzte der Humanismus der Aufklärung sich zunächst nicht durch. Er trug zwar dazu bei, dass viele barbarische Praktiken abgeschafft wurden, und begründete seine Brückenköpfe in Form der ersten liberalen Demokratien, insgesamt wurden seine Auswirkungen in großen Teilen der Welt jedoch rundheraus abgelehnt. Ein Einwand erwuchs aus einem Spannungsverhältnis zwischen den Kräften der Aufklärung, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigt haben, und den Kräften der Zivilisation, von denen im vorherigen die Rede war – aber wie wir noch genauer erfahren werden, lassen sich beide ohne große Schwierigkeiten vereinbaren. Der zweite Einwand war grundsätzlicherer Natur und hatte schicksalhaftere Folgen.
Statistiken und Erzählungen
Schon gegenüber der Vermutung, die Gewalt könne im Laufe der Geschichte zurückgegangen sein, erscheint das 20 . Jahrhundert wie ein Frontalangriff. Es wird häufig als gewalttätigstes Jahrhundert der Menschheitsgeschichte bezeichnet, und in seiner ersten Hälfte gab es eine Welle von Weltkriegen, Bürgerkriegen und Völkermord, die Matthew White als
Hemoclysm
(»Blut-Flut«) bezeichnet hat. [490] Dieses Blutbad war nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Opfer eine unvorstellbare Tragödie, sondern es
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