Gewalt
ähneln. Shakespeares Shylock fragt:
Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von ebendem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? [470]
Aus der Tatsache, dass den Menschen über alle Kulturgrenzen hinweg bestimmte grundlegende Reaktionen gemeinsam sind, ergeben sich weitreichende Folgerungen. Eine davon lautet: Es gibt eine allgemeine menschliche Natur. Zu ihr gehören unsere gemeinsamen Freuden und Schmerzen, unsere gemeinsamen Methoden des vernünftigen Denkens und unsere gemeinsame Anfälligkeit für Torheiten (nicht zuletzt für den Wunsch nach Rache). Diese menschliche Natur kann man wie alles andere in der Welt untersuchen. Und wenn wir darüber entscheiden, wie wir unser Leben organisieren, können wir unser Wissen über die menschliche Natur berücksichtigen – und unter anderem unsere eigenen Intuitionen verwerfen, wenn sie durch wissenschaftliche Erkenntnisse in Zweifel gezogen werden.
Darüber hinaus ergibt sich aus unseren psychologischen Gemeinsamkeiten die Folgerung, dass es bei allen Unterschieden zwischen den Menschen im Prinzip eine geistige Begegnung geben kann. Ich kann an die Vernunft eines anderen appellieren, kann versuchen, ihn zu überzeugen, kann Maßstäbe von Logik und Beweis anlegen, denen wir beide einfach deshalb verpflichtet sind, weil wir beide vernünftig denken.
Das ist eine folgenschwere Erkenntnis, denn sie definiert auch einen Raum für Moral. Wenn ich an dich appelliere, etwas zu tun, was mich betrifft – mir nicht auf den Fuß zu treten, mich nicht aus Spaß zu erstechen oder mein Kind vor dem Ertrinken zu retten –, und wenn ich will, dass du mich ernst nimmst, kann ich das nicht so tun, dass meine Interessen gegenüber deinen bevorzugt werden (beispielsweise indem ich auf meinem Recht beharre, dir auf den Fuß zu treten, dich zu erstechen oder deine Kinder ertrinken zu lassen). Ich muss mein Anliegen vielmehr auf eine Weise vorbringen, die mich zwingt, dich genauso zu behandeln. Genau wie ich dich nicht überzeugen kann, dass der Punkt, auf dem ich stehe, ein besonderer Ort im Universum ist, nur weil ich zufällig darauf stehe, kann ich auch nicht so tun, als wären meine Interessen etwas Besonderes, nur weil ich ich bin und du nicht. [471]
Zu dieser moralischen Übereinkunft sollten du und ich nicht nur deshalb gelangen, weil wir dann eine logisch widerspruchsfreie Unterhaltung führen können, sondern auch weil gegenseitige Selbstlosigkeit der einzige Weg ist, auf dem wir gleichzeitig unsere Interessen verfolgen können. Dir und mir ergeht es besser, wenn wir unsere Überschüsse teilen, jeweils die Kinder des anderen retten, wenn sie in Schwierigkeiten geraten, als wenn wir unsere Überschüsse horten, so dass sie verfaulen, die Kinder des jeweils anderen ertrinken lassen oder uns unaufhörlich streiten. Sicher, mir könnte es ein wenig besser gehen, wenn ich auf deine Kosten egoistisch handle und du den Trottel spielst, aber das Gleiche gilt auch umgekehrt, und wenn jeder von uns nach solchen Vorteilen streben würde, geht es uns am Ende beiden schlechter. Jeder neutrale Beobachter – aber auch du und ich, wenn wir vernünftig darüber sprechen – müsste zu dem Schluss gelangen, dass wir nach einem Zustand streben sollten, in dem wir beide selbstlos sind.
Moral ist demnach kein System willkürlicher Regeln, die von einer rachsüchtigen Gottheit diktiert und in einem Buch niedergeschrieben wurden, und sie ist auch nicht die Sitte eines bestimmten Kulturkreises oder Stammes. Moral ergibt sich aus der Austauschbarkeit der Sichtweisen und der Tatsache, dass die Welt Gelegenheiten zu Positivsummenspielen bietet. Diese Grundlagen der Moral erkennt man in den vielen Versionen der Goldenen Regel, die von den großen Religionen der Welt entdeckt worden sind, und auch in Spinozas Gesichtspunkt der Ewigkeit, Kants kategorischem Imperativ, dem Gesellschaftsvertrag eines Hobbes oder Rousseau und der von Locke und Jefferson formulierten selbstverständlichen Wahrheit, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden.
Aus dem Wissen um die Tatsache, dass es eine universelle menschliche Natur gibt, und aus dem
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