Gewalt
18 000 , die nun 15 Bände füllen. [465] Natürlich entspann sich dieser Dialog nach heutigen Maßstäben im Schneckentempo – es vergingen Wochen oder manchmal auch Monate –, aber der Austausch war immer noch so schnell, dass man Ideen anschneiden, kritisieren, verknüpfen, verfeinern und den Machthabern zur Kenntnis bringen konnte. Ein charakteristisches Beispiel ist Beccarias Werk
Von den Verbrechen und von den Strafen
, das sofort zur Sensation wurde und den Anstoß gab, grausame Bestrafungen überall in Europa abzuschaffen.
Wenn genügend Zeit und eine ausreichende Zahl von Zulieferern zur Verfügung stehen, kann ein Markt der Ideen nicht nur Gedanken verbreiten, sondern auch ihre Zusammensetzung verändern. Niemand ist so klug, dass er alles, was sich lohnen würde, von Grund auf erforschen könnte. Selbst Newton (der alles andere als ein bescheidener Mensch war) räumte 1675 in einem Brief an seinen Wissenschaftlerkollegen Robert Hooke ein: »Wenn ich weiter geblickt habe, dann deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stehe.« Der menschliche Geist ist geschickt darin, eine komplizierte Idee zu einem Paket zusammenzuschnüren, sie mit anderen Ideen zu einem komplexen Gefüge zu verknüpfen, dieses Gefüge zu einem noch größeren Paket zu machen, das er mit noch anderen Ideen in Verbindung bringt, und so weiter. [466] Dazu braucht er aber einen stetigen Nachschub an Ergänzungen und Untersystemen, und die können nur von einem Netzwerk anderer kluger Köpfe stammen.
Nicht nur die Komplexität, sondern auch die Qualität der Ideen kann nur in einer globalen Wissenschaftslandschaft aufblühen. Bei hermetischer Isolation gären unter Umständen alle möglichen bizarren, giftigen Gedanken. Sonnenlicht ist das beste Desinfektionsmittel, und wenn man eine schlechte Idee den kritischen Strahlen anderer Köpfe aussetzt, besteht zumindest eine gewisse Chance, dass sie im Sande verläuft und ausstirbt. Aberglaube, Dogmen und Legenden sollten in einer Gelehrtenrepublik eine kürzere Halbwertszeit haben, und das Gleiche gilt für schlechte Ideen darüber, wie man Verbrechen unter Kontrolle hält oder ein Land regiert. Einen Menschen anzuzünden und zu beobachten, ob er brennt, ist ein dummer Weg zum Ermitteln von Schuld. Ebenso idiotisch ist es, eine Frau hinzurichten, weil sie angeblich mit Teufeln kopuliert und sie in Katzen verwandelt hat. Und wer nicht gerade ein absolutistischer Erbmonarch ist, wird sich wohl kaum davon überzeugen lassen, dass die absolutistische Erbmonarchie die optimale Regierungsform ist.
Die einzige Technik in Lodges Roman von 1988 , die durch das Internet noch nicht überflüssig geworden ist, sind die Düsenflugzeuge. Sie erinnern uns daran, dass es manchmal für die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht keinen Ersatz gibt. Flugzeuge können Menschen zusammenbringen, aber Stadtbewohner sind bereits zusammen, und deshalb waren Städte seit jeher Schmelztiegel für Ideen. In kosmopolitischen Großstädten findet sich unter Umständen eine kritische Masse vielfältiger Köpfe zusammen, und die Ecken und Winkel solcher Metropolen bieten Orte, an denen Querdenker Zuflucht suchen. Das Zeitalter der Vernunft und die Aufklärung waren auch ein Zeitalter der Urbanisierung. London, Paris und Amsterdam wurden zu Basaren des Geistes, wo die Denker sich in Salons, Kaffeehäusern und Buchhandlungen versammelten, um die Ideen ihrer Zeit zu verhackstücken.
Amsterdam spielte als Arena der Ideen eine ganz besondere Rolle. Im 17 . Jahrhundert, während des Goldenen Zeitalters der Niederlande, wurde die Stadt zu einem betriebsamen Hafen, der hereinströmenden Waren, Ideen, Geldern und Menschen offenstand. In Amsterdam lebten Katholiken, Wiedertäufer, Protestanten verschiedener Glaubensrichtungen und Juden, deren Vorfahren man aus Portugal vertrieben hatte. Es gab mehrere Buchverlage, die das kühne Geschäft betrieben, umstrittene Bücher zu drucken und in Länder zu exportieren, in denen sie verboten waren. Spinoza, auch er ein Bewohner Amsterdams, unterwarf die Bibel einer literaturwissenschaftlichen Analyse und entwickelte eine Theorie für alles und jedes, die keinen Platz für einen lebendigen Gott mehr ließ. Er wurde 1656 von der jüdischen Gemeinschaft exkommuniziert, denn die war angesichts der noch frischen Erinnerungen an die Inquisition sehr darauf bedacht, nicht die Aufmerksamkeit der Christen in ihrem Umfeld zu erregen. [467] Für Spinoza war das weniger tragisch, als wenn er
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