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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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demütigendes Ultimatum gestellt und verlangt, der Staat solle sich für die Ermordung des Erzherzogs entschuldigen und die nationalistischen Bewegungen im Lande zu ihrer Zufriedenheit zerschlagen. Russland fühlte sich im Namen seiner slawischen Freunde beleidigt, Deutschland fühlte sich im Namen seiner deutschsprachigen Freunde beleidigt durch die russische Beleidigung, und als Großbritannien und Frankreich in den Krieg eintraten, geriet die Konkurrenz um Gesichtswahrung, Demütigung, Schande, Stellung und Glaubwürdigkeit außer Kontrolle. Aus Angst, zu einer »Macht zweiter Klasse« degradiert zu werden, gingen sie in einer tödlichen Mutprobe aufeinander los.
    Ehrenhändel waren natürlich während der gesamten blutigen Geschichte Europas schon immer ein Anlass für Kriege gewesen. Aber Ehre ist, wie Falstaff bemerkte, nur ein Wort – heute würden wir sagen: ein gesellschaftliches Konstrukt –, und »Herabsetzung kann sie nicht leiden«. Aber zur Herabsetzung kam es schon bald. Der vielleicht beste Anti-Kriegs-Film aller Zeiten ist
Duck Soup
[dt.
Die Marx Brothers im Krieg
] von 1933 . Groucho spielt darin Rufus T. Firefly, den neu ernannten Herrscher von Freedonia, der gebeten wird, mit dem Botschafter des benachbarten Sylvania Frieden zu schließen:
    Ich will nicht Firefly heißen, wenn ich nicht alles Menschenmögliche auf mich nehme, um mein geliebtes Freedonia vor dem Krieg zu bewahren. Vom Herzen bewillkommnen will ich den Botschafter und ihm im Namen meines Volkes diese Hand zum Brudergruß darbieten. Und er wird die dargebrachte Freundschaft bestimmt warmherzig erwidern.
    Aber wenn er’s nicht täte? Das wär’ ’ne nette Bescherung. Ich strecke ihm meine Hand entgegen, und er will nichts von mir wissen. Was würd’ ich dann wohl für eine Figur machen? Ich, das Oberhaupt des Landes, brüskiert von so einem Pinkel! Wer ist denn dieser Herr Botschafter? Kommt hierher und will mich vor versammelter Mannschaft zum Popanz machen. So weit kommt’s noch. Ich halte ihm meine Hand hin und die Hyäne pfeift mir was, macht mich zur Witzblattfigur. Soll der bloß kommen, dieses Schwein. Glauben Sie nicht, ich würd’ so schnell vergessen, dass Sie mir das eingebrockt haben! [Der Botschafter kommt.] So! Sie weigern sich also, mir die Hand zu geben, hä? [Gibt dem Botschafter eine Ohrfeige.]
    BOTSCHAFTER : Mrs.Teasdale, jetzt gibt es keinen Ausweg mehr! Das bedeutet Krieg!
    Daraufhin entfaltet sich eine absonderliche Szene: Die Marx Brothers spielen Xylophon auf den Pickelhauben der versammelten Soldaten und weichen Kugeln und Granaten aus, während ihre Uniformen sich ständig verändern – vom Bürgerkriegssoldaten über den Pfadfinder und den britischen Palastwächter bis zum Trapper mit Waschbärfellmütze. Der Krieg wurde mit dem Duell verglichen, und wie bereits erwähnt, starben Duelle schließlich aus, weil man nur noch über sie lachte. Auf ganz ähnliche Weise wurde jetzt auch aus dem Krieg die Luft herausgelassen, womit sich vielleicht eine Prophezeiung von Oscar Wilde erfüllte: »Solange man den Krieg als etwas Böses ansieht, wird er seine Anziehungskraft behalten. Erst wenn man in ihm etwas Ordinäres erkennt, wird er seine Popularität verlieren.« [620]
    Eine andere Stoßrichtung hatte ein weiterer Satireklassiker jener Zeit, der 1940 erschienene Film
Der große Diktator
von Charlie Chaplin. Er richtete sich nicht mehr gegen die hitzköpfigen politischen Führer von Phantasiestaaten, denn mittlerweile waren nahezu alle allergisch gegen eine militärische Ehrenkultur. Die Witzfiguren waren vielmehr kaum getarnte zeitgenössische Diktatoren, die dieses Ideal auf anachronistische Weise hochhielten. In einer denkwürdigen Szene beraten sich Hitler und Mussolini in einem Friseursalon, und jeder bemüht sich, seinen Stuhl in die Höhe zu pumpen und damit den anderen zu beherrschen, bis beide mit den Köpfen gegen die Decke stoßen.
    In den 1930 er Jahren hatte sich die Abneigung gegen Kriege in Europa nach Muellers Angaben sogar in der deutschen Bevölkerung und der Militärführung des Landes durchgesetzt. [621] Zwar herrschte große Verärgerung über die Bedingungen des Versailler Vertrages, aber nur die wenigsten waren bereit, zu ihrer Korrektur einen Eroberungskrieg anzufangen. Mueller nahm alle deutschen Politiker unter die Lupe, die überhaupt Aussichten auf das Amt des Reichskanzlers hatten, und gelangte zu der Einschätzung, dass außer Hitler keiner bestrebt war, Europa zu

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