Gewalt
unterwerfen. Selbst ein Putsch des deutschen Militärs hätte nach Ansicht des Historikers Henry Turner nicht zum Zweiten Weltkrieg geführt. [622] Hitler nutzte die Kriegsmüdigkeit der Welt aus, betonte wiederholt seine Friedensliebe und wusste gleichzeitig, dass niemand bereit war, ihn aufzuhalten, solange man ihn noch hätte aufhalten können. Mit einer Übersicht über Hitler-Biographien verteidigt Mueller den Gedanken, den auch viele Historiker teilen: Für das größte Blutbad aller Zeiten war vorwiegend ein einziger Mann verantwortlich:
Nach seiner Machtergreifung 1933 ging Hitler schnell und entschlossen daran, Gegner oder potentielle Gegner zu überzeugen, einzuschüchtern, zu beherrschen, auszumanövrieren, herabzusetzen und in vielen Fällen auch zu ermorden. Er besaß eine enorme Energie und Hartnäckigkeit, eine außergewöhnliche Überzeugungskraft, ein hervorragendes Gedächtnis, eine starke Konzentrationsfähigkeit, ein überragendes Machtstreben, einen fanatischen Glauben an seine Mission, ein ungeheures Selbstbewusstsein, einen einzigartigen Wagemut, eine aufsehenerregende Fähigkeit, zu lügen, einen faszinierenden Redestil und die Fähigkeit, völlig erbarmungslos gegenüber allen zu sein, die ihm in die Quere kamen oder versuchten, ihn von seinem beabsichtigten Handlungsverlauf abzubringen …
Hitler brauchte das Chaos und die Unzufriedenheit, um damit zu arbeiten – einen großen Teil davon schuf er allerdings auch selbst. Und mit Sicherheit brauchte er Hilfe – Kollegen, die ehrerbietig und unterwürfig waren; eine überragende Armee, die man manipulieren und zur Aktivität aufpeitschen konnte; eine Bevölkerung, die sich faszinieren und ins Gemetzel führen ließ; Gegner im Ausland, die verwirrt, unorganisiert, leichtgläubig, kurzsichtig und verzagt waren; Nachbarn, die lieber Beute waren, als zu kämpfen – auch die schuf er sich allerdings zu großen Teilen selbst. Hitler nahm die Bedingungen der Welt, wie er sie vorfand, um sie dann zu seinen eigenen Zwecken zu formen und zu manipulieren. [623]
Nachdem 55 Millionen Menschen gestorben waren (darunter mindestens zwölf Millionen durch Japans einfältigen Feldzug, mit dem es Ostasien beherrschen wollte), war die Welt wieder einmal so weit, dass der Frieden eine Chance hatte.
Der Lange Frieden: Einstellungen und Ereignisse
Die Kursivierung in Gats »wahrer
Zustand
des Friedens« macht nicht nur deutlich, dass die Zahl der Kriege zwischen Industriestaaten bei null liegt, sondern sie weist auch auf eine Veränderung in der Geisteshaltung hin. Die Wege, auf denen Industrieländer den Krieg begreifen und sich darauf vorbereiten, haben einen weitreichenden Wandel durchgemacht.
Eine Quelle, aus der sich die zunehmende Zerstörungskraft von Kriegen seit 1500 gespeist hat (siehe Abbildung 5 - 16 ), war die Aushebung von Truppen: Durch sie wurden die nationalen Armeen mit immer neuem Nachschub an Körpern versorgt. Zur Zeit der napoleonischen Kriege gab es in den meisten europäischen Staaten eine Form der Wehrpflicht. Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen war nahezu nicht vorstellbar, und die Methoden der Rekrutierung waren weitaus weniger höflich als das Telegramm, vor dem junge US -Amerikaner sich in den 1960 er Jahren fürchteten und das mit dem Wort »Greetings« begann. Zwangsrekrutierer holten Männer im Auftrag der Regierung von der Straße und zwangen sie, der Armee oder Marine beizutreten. (Die Navy der Vereinigten Staaten während des amerikanischen Revolutionskrieges war fast ausschließlich von Zwangsrekrutierern aufgestellt worden.) [648] Der obligatorische Kriegsdienst nahm oftmals einen beträchtlichen Teil der Lebenszeit eines Mannes in Anspruch – für einen Leibeigenen in Russland waren es im 19 . Jahrhundert bis zu 25 Jahre.
Die militärische Rekrutierung stellt eine doppelte Anwendung von Gewalt dar: Menschen werden zum Kriegsdienst gezwungen, und dieser Dienst setzt sie einem hohen Risiko aus, verstümmelt oder getötet zu werden. Von Zeiten der existentiellen Bedrohung abgesehen, ist das Ausmaß der Zwangsrekrutierung ein Maßstab für die Bereitschaft eines Staates, Gewaltanwendung zu billigen. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Welt eine stetige Verkürzung des militärischen Pflichtdienstes. Die Vereinigten Staaten, Kanada und die meisten europäischen Staaten haben die Wehrpflicht mittlerweile völlig abgeschafft, und in den anderen dient sie vorwiegend nicht als
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