Gewalt
die Staaten in vielen Fällen nur kurz den Staub abgeschüttelt und sich dann sofort in einen neuen Krieg gestürzt, als hätten sie nichts dazugelernt. Wie bereits erwähnt wurde, lässt die Statistik der tödlichen Konflikte keine Anzeichen für eine Kriegsmüdigkeit erkennen. Mueller vertritt deshalb die Ansicht, der entscheidende Unterschied habe dieses Mal darin bestanden, dass es eine beredte Friedensbewegung gab, die im Hintergrund bereitstand und nun sagen konnte: »Ich habe es euch doch gleich gesagt.«
Der Wandel war sowohl in der politischen Führung als auch in der gesamten Kultur zu erkennen. Als deutlich wurde, wie zerstörerisch der Erste Weltkrieg war, wurde er als »Krieg, der alle Kriege beendet« neu gedeutet, und nachdem er vorüber war, bemühten sich die politischen Verantwortlichen auf der ganzen Welt darum, die Hoffnung gesetzgeberische Realität werden zu lassen. Sie distanzierten sich offiziell vom Krieg und gründeten den Völkerbund, um ihn zu verhindern. So pathetisch diese Maßnahmen im Rückblick auch erscheinen mögen, sie waren zu jener Zeit eine radikale Abkehr von den vielen Jahrhunderten, in denen Krieg als ruhmreich, heldenhaft, ehrenvoll oder in den berühmten Worten des Militärtheoretikers Carl von Clausewitz als »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« gegolten hatte.
Der Erste Weltkrieg wurde auch als erster »literarischer Krieg« bezeichnet. Schon Ende der 1920 er Jahre hatte ein ganzes Genre verbitterter Überlegungen dazu geführt, dass die Tragik und Nutzlosigkeit des Krieges zum Allgemeinwissen geworden waren. Zu den großen Werken jener Zeit gehören die Gedichte und Memoiren von Siegfried Sassoon, Robert Graves und Wilfred Owen, der Romanbestseller und Film
Im Westen nichts Neues
, das Gedicht »The Hollow Men« von T. S. Eliot, der Roman
Farewell to Arms
(dt.
In einem anderen Land
) von Ernest Hemingway, das Theaterstück
Journey’s End
(dt.
Die andere Seite
) von R. C. Sherriff, der Film
The Big Parade
(dt.
Die große Parade
) und der Film
La grande illusion
(dt.
Die große Illusion
) von Jean Renoir – ein Titel, den er von Angells Kampfschrift übernahm. Wie andere menschlich anrührende Kunstwerke, so schufen auch diese Geschichten die Illusion eines unmittelbaren Erlebens in der ersten Person; sie forderten das Publikum auf, Mitgefühl mit dem Leiden anderer zu haben. In einer unvergesslichen Szene aus
Im Westen nichts Neues
untersucht ein junger deutscher Soldat die Leiche eines Franzosen, den er gerade getötet hat:
Seine Frau denkt jetzt sicher an ihn; sie weiß nicht, was geschehen ist. Er sieht aus, als wenn er ihr oft geschrieben hätte; – sie wird auch noch Post von ihm bekommen …, vielleicht einen verirrten Brief noch in einem Monat. Sie wird ihn lesen, und er wird darin zu ihr sprechen …
So rede ich ihn an und sage es ihm. … »Kamerad, ich wollte dich nicht töten … Warum sagt man uns nicht immer wieder, dass ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, dass eure Mütter sich ebenso ängstigen wie unsere und dass wir die gleiche Furcht vor dem Tode haben und das gleiche Sterben und den gleichen Schmerz …
»Ich will deiner Frau schreiben«, sage ich hastig zu dem Toten, »ich will ihr schreiben, sie soll es durch mich erfahren, ich will ihr alles sagen, was ich dir sage, sie soll nicht leiden, ich will ihr helfen und deinen Eltern und auch deinem Kinde ….« Ohne Entschluss halte ich die Brieftasche in der Hand. Sie entfällt mir und öffnet sich … Es sind Bilder einer Frau und eines kleinen Mädchens, schmale Amateurfotografien vor einer Efeuwand. Neben ihnen stecken Briefe … [618]
Ein anderer Soldat fragt, wie Kriege beginnen, und erhält zur Antwort: »Meistens so, dass ein Land ein anderes schwer beleidigt.« Darauf erwidert der Soldat: »Ein Land? Das verstehe ich nicht. Ein Berg in Deutschland kann doch einen Berg in Frankreich nicht beleidigen. Oder ein Fluss oder ein Wald oder ein Weizenfeld.« [619] Unter dem Strich hatte diese Literatur nach Muellers Feststellungen zur Folge, dass Krieg nicht mehr als etwas Ruhmreiches, Heldenhaftes, Heiliges, Spannendes, Männliches oder Läuterndes angesehen wurde. Er galt jetzt als unmoralisch, abstoßend, unzivilisiert, nutzlos, dumm, verschwenderisch und grausam.
Und was vielleicht ebenso wichtig ist: Er galt als absurd. Der unmittelbare Anlass für den Ersten Weltkrieg war ein Streit um Ehre. Die politische Führung von Österreich-Ungarn hatte Serbien ein
Weitere Kostenlose Bücher