Gewalt
Religionskriege Anfang des 17 . Jahrhunderts, das Vierteljahrhundert mit dem Zweiten Weltkrieg und die Phase der französischen Revolutions- und napoleonischen Kriege.
In Europa sieht die Entwicklung der organisierten Gewalt also ungefähr folgendermaßen aus: Von 1400 – 1600 gab es einen niedrigen, aber ziemlich konstanten »Bodensatz« aus Konflikten; dann folgte das Blutbad der Religionskriege, ein holpriger Rückgang bis 1775 , gefolgt von den französischen Problemen, dann wieder eine merkliche Ruhephase Mitte und Ende des 19 . Jahrhunderts, und dann, nach dem beispiellosen Massaker des 20 . Jahrhunderts, das ebenso beispiellose, ganz am Boden verlaufende Niveau des Langen Friedens.
Wie können wir die langsamen Verschiebungen und plötzlichen Ausbrüche der Gewalt zwischen den Großmächten und in Europa, die sich während des letzten halben Jahrtausends abgespielt haben, erklären? Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wir von der Statistik zur Geschichtsschreibung übergehen müssen. In den nächsten Abschnitten werde ich erzählen, welche Geschichte hinter den Diagrammen steckt. Dazu kombiniere ich die Zahlen der Konfliktzähler mit den Berichten von Historikern und Politikwissenschaftlern wie David Bell, Niall Ferguson, Azar Gat, Michael Howard, John Keegan, Evan Luard, John Mueller, James Payne und James Sheehan.
Zunächst ein kurzer Überblick. Erinnern wir uns noch einmal an die Zickzackkurve in Abbildung 5 - 18 , die sich aus vier Strömungen zusammensetzt. Am Anfang des modernen Europa stand ein Hobbes’scher Zustand der häufigen, aber kleinen Kriege. Als die politischen Einheiten zu gefestigten, größeren Staaten wurden, nahm die Zahl der Konflikte ab. Gleichzeitig forderten aber die Kriege, die noch stattfanden, immer mehr Opfer, weil eine militärische Revolution zur Entstehung größerer, leistungsfähigerer Armeen geführt hatte. Und schließlich schwankten die europäischen Staaten in den einzelnen Perioden zwischen Ideologien mit Alleinvertretungsanspruch, die das Interesse des Einzelnen einer utopischen Vision unterordneten, und einem aufgeklärten Humanismus, der diesen Interessen den höchsten Wert beimaß.
Humanismus und Totalitarismus im Zeitalter der Ideologie
Im Zeitalter der Ideologie, das 1917 begann, wurde der Verlauf von Kriegen durch die im 19 . Jahrhundert entstandenen Glaubenssysteme der Gegenaufklärung mit ihrem Alleinvertretungsanspruch bestimmt. Ein romantischer, militaristischer Nationalismus gab die Anregung zu den expansionistischen Bestrebungen des faschistischen Italien und des kaiserlichen Japan sowie – mit einer zusätzlichen Dosis rassistischer Pseudowissenschaft – Nazideutschlands. In allen diesen Ländern lästerte die politische Führung gegen den dekadenten Individualismus und Universalismus des modernen, liberalen Westens, und alle waren von der Überzeugung getrieben, es sei ihre Bestimmung, über ein natürliches Territorium zu herrschen: Italien über den Mittelmeerraum, Japan über die Pazifik-Anrainer und Deutschland über den europäischen Kontinent. [611] Am Beginn des Zweiten Weltkrieges standen Invasionen, mit denen diese Bestimmung verwirklicht werden sollte. Gleichzeitig wurde ein romantischer, militaristischer Kommunismus zur Triebkraft der Expansionsbestrebungen der Sowjetunion und Chinas: Dort wollte man den dialektischen Prozess unterstützen, durch den das Proletariat oder die Bauernschaft die Bourgeoisie beseitigen und in einem Land nach dem anderen eine Diktatur errichten sollte. Der Kalte Krieg erwuchs aus der Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, diese Bestrebungen irgendwo in der Nähe der Grenzen, die sie am Ende des Zweiten Weltkrieges gesetzt hatten, einzudämmen. [612]
Diese Darstellung lässt aber einen wichtigen Handlungsstrang außer Acht, der vielleicht die dauerhaftesten Auswirkungen auf das 20 . Jahrhundert hatte. Mueller, Howard, Payne und andere Historiker erinnern uns daran, dass das 19 . Jahrhundert noch eine andere Bewegung erlebte: die Fortsetzung der in der Aufklärung begonnenen Kriegskritik. [613] Im Gegensatz zu dem Zweig des Liberalismus, der eine Schwäche für den Nationalismus entwickelte, behielt dieser den einzelnen Menschen im Blick, dessen Interessen im Mittelpunkt stehen. Außerdem berief er sich auf die Kant’schen Prinzipien von Demokratie, Handel, Weltbürgertum und Völkerrecht als praktische Mittel zur Umsetzung des Friedens.
Zu den Vordenkern der Friedensbewegung des 19
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