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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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gelten, ist wahrlich eine gute Nachricht. [671]
    So groß der Wandel in den Einstellungen der Amerikaner auch war, in Europa veränderten sich die Verhältnisse bis zur Unkenntlichkeit. Der Außenpolitik-Analytiker Robert Kagan formuliert es so: »Amerikaner sind vom Mars, Europäer sind von der Venus.« [672] Im Februar 2003 kam es in europäischen Großstädten zu Massendemonstrationen gegen die bevorstehende, von den Vereinigten Staaten angeführte Invasion im Irak. Dabei gingen in London, Barcelona und Rom jeweils eine Million Menschen, in Madrid und Berlin jeweils mehr als eine halbe Million auf die Straße. [673] In London stand auf den transparenten »Kein Blut für Öl«, »Schluss mit dem Cowboywahnsinn«, »Der wirkliche Bösewicht ist Amerika«, »Make Tea, Not War«, »Schluss damit« oder einfach »nein«. Frankreich und Deutschland lehnten es bemerkenswerterweise ab, sich den Vereinigten Staaten und Großbritannien anzuschließen, und Spanien zog sich wenig später zurück. Selbst der Krieg in Afghanistan, der in Europa auf weniger Opposition stieß, wird vorwiegend von amerikanischen Soldaten geführt. Sie stellen nicht nur mehr als die Hälfte der aus 44 Staaten stammenden NATO -Truppen, sondern die europäischen Streitkräfte haben sich auch einen gewissen Ruf erworben, wenn es um Kriegstugenden geht. Ein Captain der kanadischen Streitkräfte schrieb mir 2003 aus Kabul:
    Heute Morgen wartete ich während des Kalaschnikow-Konzerts darauf, dass die Besatzungen der Wachtürme in unserem Lager das Feuer eröffneten. Ich dachte, sie würden schlafen. Das war nicht anders zu erwarten. Unsere Türme sind mit Bundeswehrsoldaten besetzt, und die haben ihre Sache nicht gut gemacht … wenn sie überhaupt da waren. Diese letzte Bemerkung mache ich zu Recht, denn die Deutschen hatten bereits mehrmals die Türme verlassen. Zum ersten Mal geschah das, als wir von Raketen getroffen wurden. In den übrigen Fällen hatte es damit zu tun, dass es in den Türmen kalt war. Als ich mit einem deutschen Leutnant über diesen Mangel an Ehre und einfachem Soldatenverhalten sprach, erwiderte er, es liege in der Verantwortung Kanadas, Heizgeräte für die Türme zu liefern. Darauf schnauzte ich zurück, es liege in der Verantwortung Deutschlands, seine Soldaten mit warmer Kleidung auszustatten. Ich war versucht, eine Bemerkung darüber zu machen, dass Kabul nicht Stalingrad ist, aber ich hielt meine Zunge im Zaum.
    Die heutige deutsche Armee ist nicht mehr das, was sie einmal war. Oder, wie ich es hier mehrmals gehört habe: »Das ist nicht die Wehrmacht.« Angesichts der Geschichte unseres Volkes kann ich die Ansicht vertreten, dass dies wirklich etwas Gutes ist. Da aber meine Sicherheit jetzt von der Wachsamkeit der Nachkommen des Herrenvolkes abhängt, bin ich, gelinde gesagt, ein wenig beunruhigt. [674]
    In einem Buch mit dem Titel
Where Have All the Soldiers Gone? The Transformation of Modern Europe
(dt.
Kontinent der Gewalt: Europas langer Weg zum Frieden
) vertritt der Historiker James Sheehan die Ansicht, in Europa habe sich der gesamte Staatsbegriff verändert. Der Staat ist nicht mehr der Inhaber einer Streitmacht, die Größe und Sicherheit der Nation verstärkt, sondern ein Lieferant sozialer Sicherheit und materiellen Wohlergehens. Dennoch, und bei allen Unterschieden zwischen den »verrückten Cowboys« in Amerika und den europäischen »Kapitulationsaffen«, ist die parallele Entwicklung ihrer politischen Kultur, die vom Krieg wegführt, historisch bedeutsamer als die noch verbliebenen Unterschiede.

Ist der Lange Frieden ein Demokratischer Frieden?
    Wenn der Lange Frieden nicht das robuste Kind des Terrors und der Zwillingsbruder der Vernichtung ist, wessen Kind ist er dann? Können wir eine äußere Variable erkennen – eine Entwicklung, die selbst nicht Teil des Friedens ist und in den Nachkriegsjahren aufblühte, so dass wir Grund zu der Annahme haben, sie sei eine echte, gegen den Krieg gerichtete Kraft? Gibt es eine Begründung, die mehr Erklärungskraft hat als die Aussage, die Industrieländer hätten keine Kriege mehr geführt, weil sie weniger kriegslüstern waren?
    In Kapitel 4 haben wir eine 200  Jahre alte Theorie kennengelernt, die einige Voraussagen möglich macht. In seinem Aufsatz über den »Ewigen Frieden« äußerte Immanuel Kant die Überlegung, dass drei Umstände für politisch Verantwortliche den Anreiz zur Kriegsführung vermindern sollten, ohne dass diese deshalb freundlicher oder

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