Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
auszudrücken.
Die Abwehr überwinden, Anerkennung auszusprechen
Ich war tief berührt von einer Textpassage im Buch von John Powell, The Secret of Staying in Love, in dem er seine Traurigkeit darüber beschreibt, daß es ihm zu Lebzeiten seines Vaters nicht möglich gewesen war, die Wertschätzung auszudrücken, die er für ihn empfand. Wie schmerzlich mußte es sein, wenn man die Chance nicht nutzt, den Menschen, die den stärksten positiven Einfluß auf uns gehabt haben, unseren Dank auszudrücken!
Sofort fiel mir mein Onkel Julius Fox ein. Als ich ein Junge war, kam er jeden Tag und bot an, sich um meine Großmutter zu kümmern, die völlig gelähmt war. Während er sich um sie kümmerte, hatte er immer ein warmes und liebevolles Lächeln im Gesicht. Wie unangenehm diese Aufgaben in meinen kindlichen Augen auch zu sein schienen, er behandelte sie, als würde sie ihm, mit ihrer Erlaubnis für sie zu sorgen, den größten Gefallen der Welt tun. Das war für mich ein wunderbares Vorbild männlicher Stärke, und ich habe es mir über die Jahre hinweg immer wieder vor Augen gehalten.
Mir fiel auf, daß ich meinem Onkel, der jetzt selbst krank und dem Tod nahe war, nie meinen Dank ausgedrückt hatte. Ich dachte daran, es zu tun, bemerkte jedoch meinen Widerstand: „Ich bin sicher, er weiß, wieviel er mir bedeutet, ich muß es nicht laut sagen; außerdem ist es ihm vielleicht peinlich, wenn ich es in Worte fasse.“ Sobald diese Gedanken durch meinen Kopf gingen, wußte ich schon, daß sie nicht stimmten. Zu oft hatte ich schon gedacht, die anderen wüßten um das Ausmaß meiner Wertschätzung für sie, um dann doch eines Besseren belehrt zu werden. Und auch wenn es den Leuten peinlich war, wollten sie doch die Anerkennung in Worten hören.
Ich zögerte immer noch und sagte mir, daß Worte der Tiefe dessen, was ich vermitteln wollte, nicht gerecht würden. Das durchschaute ich aber auch schnell. Ja, Worte sind vielleicht etwas mager, um die Wahrheiten aus der Tiefe unseres Herzens auszudrücken, aber wie ich einmal gelernt habe: „Wenn etwas sich lohnt zu tun, dann lohnt es sich auch dann, wenn wir es nicht so gut können.“
Wie es manchmal so ist, fand ich mich kurz darauf bei einer Familienfeier neben Onkel Julius sitzen, und die Worte flossen einfach aus mir heraus. Er nahm sie freudig auf, ohne Peinlichkeit. Ich floß über vor Gefühlen an diesem Abend, und so fuhr ich nach Hause, schrieb ein Gedicht und schickte es ihm. Später wurde mir erzählt, daß sich mein Onkel das Gedicht jeden Tag vorlesen ließ, bis zu seinem Tod drei Wochen darauf.
Zusammenfassung
Konventionelle Komplimente haben oft die Form eines Urteils, auch wenn es positiv ist, und werden manchmal ausgesprochen, um das Verhalten anderer zu manipulieren. Die GFK unterstützt das Ausdrücken von Anerkennung, aber nur dann, wenn sie dem Feiern dient. Wir benennen 1) die Handlung, die zu unserem Wohlbefinden beigetragen hat, 2) unser spezielles Bedürfnis, das zufriedengestellt wurde, und 3) unser freudiges Gefühl als Ergebnis davon.
Wenn Anerkennung uns gegenüber so ausgedrückt wird, dann können wir sie ohne Selbstüberschätzung oder falsche Bescheidenheit annehmen und gemeinsam mit demjenigen, der sie uns gibt, feiern.
Epilog
Ich fragte einmal Onkel Julius, wie er sich ein so bemerkenswertes Potential, sich einfühlsam zu geben, angeeignet hatte. Er schien sich durch meine Frage geehrt zu fühlen und dachte über sie nach, bevor er antwortete: „Ich war mit guten Lehrern gesegnet.“ Als ich fragte, wer sie waren, erinnerte er sich: „Deine Großmutter war die beste Lehrerin, die ich hatte. Du hast erst mit ihr zusammengelebt, als sie schon krank war, deshalb weißt du nicht, wie sie wirklich war. Hat dir deine Mutter zum Beispiel mal von der Zeit während der wirtschaftlichen Depression erzählt, als deine Großmutter einen Schneider, der sein Haus und sein Geschäft verloren hatte, mit Frau und zwei Kindern drei Jahre lang bei sich zu Hause aufnahm?“ Ich konnte mich gut an diese Geschichte erinnern. Sie hatte einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, als meine Mutter mir zum ersten Mal davon erzählte, weil ich mir nie vorstellen konnte, wo Großmutter Platz gefunden hatte für die Familie des Schneiders in ihrem bescheidenen Haus, wo sie ihre eigenen neun Kinder großzog!
Onkel Julius rief die Erinnerung an das Mitgefühl meiner Großmutter noch in weiteren Anekdoten wieder wach, die ich alle als Kind gehört hatte. Dann
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