Gewitterstille - Kriminalroman
und sie anstarrte. Er sah unbeschreiblich wütend aus.
Erst jetzt wurde Sophie bewusst, in welche Gefahr sie ihn durch ihr Verhalten brachte.
»Janina, ich …«, stotterte sie und sah Jens im gleichen Moment auf sich zustürzen.
Ein lautes Krachen und Sophies gellender Schrei waren das Letzte, das am anderen Ende der Leitung zu hören war.
25. Kapitel
P etra Kessler stand auf der Terrasse und rauchte eine Zigarette. Sie blickte auf das satte Blattgrün der alten Eiche am Ende des Gartens. Sie verstand nicht, wie ihre Mutter es über all die Jahre fertiggebracht hatte, in diesem Haus wohnen zu bleiben. Dort, wo jetzt ein Beet aus dornigen Rosenbüschen wuchs, hatte früher das alte Gartenhaus gestanden. Sie drückte die Kippe im Aschenbecher aus, griff nach der Gartenschere und ging hinüber, um die verwelkten Blüten abzuschneiden. Doch als sie vor dem verwilderten Beet stand, zitterten ihre Hände so stark, dass die Schere zu Boden fiel. In diesem Moment überkam Petra die Gewissheit, dass sie die Erinnerung an jenen Dezembertag nie aus ihrem Herzen würde verbannen können.
Irgendwann war es draußen so kalt, dass Petra den Weg nach Hause einschlagen musste. Ihre Tante hatte sicher längst erfahren, dass sie am Morgen aus der Schule davongelaufen war. Sie ging auf ihr Elternhaus zu und wunderte sich, dass dort kaum Licht brannte, obwohl es bereits dunkel wurde. Vom Gehweg aus konnte sie sehen, dass nur im Schlafzimmer im ersten Stock eine Lampe eingeschaltet war. Petra öffnete die Haustür und schaltete das Flurlicht an. Sie rief nach ihrem Vater, doch sie bekam keine Antwort. Offenbar war er oben. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, und auch dort war es dunkel. Mit durchgefrorenen Händen streifte sie ihre Winterstiefel und ihren Mantel ab, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging in die Küche. Das Frühstücksgedeck ihres Vaters stand benutzt an der Stelle, wo sie es am Morgen vor der Schule für ihn hingestellt hatte, und auf dem Herd stand eine schmutzige Pfanne mit Eierresten. Er war also immerhin unten gewesen. Obwohl sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte, verspürte sie keinen Hunger. Sie brühte sich nur einen Becher Tee auf, saß eine Weile am Küchentisch und hörte dem Ticken der Wanduhr zu. Sollte sie nach oben gehen? Er hatte mit Sicherheit längst bemerkt, dass sie wieder zu Hause war.
Das Telefon klingelte so laut, dass sie aufschrak. Sie horchte hinaus auf den Flur, aber auch jetzt blieb es oben still. Er kam nicht nach unten, und sie ließ es klingeln. Es war vermutlich ihre Tante. Sie hatte keine Lust, mit jemand anderem als ihrer Mutter zu sprechen, und die rief verabredungsgemäß erst abends um sieben an. Sie entschied sich hinaufzugehen. Das erneute Klingeln des Telefons durchbrach die Stille, während sie die knarrende Treppe hochstieg. Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt. Sie ging nicht hinein, sondern huschte in ihr Zimmer, knipste die Leselampe über ihrem Bett an und setzte sich auf die Kante. Es war nicht richtig, ihn nicht zu begrüßen. Sie würde irgendwann zu ihm gehen müssen. Aber gerade heute schien ihr der Gedanke unerträglich, ihm gegenüberzutreten, ihm, dem sie angeblich so verblüffend ähnlich sah.
Das Telefon unten klingelte schon wieder. Petra betrachtete ihre unzähligen Puppen, die sie neben einigen bestickten Kissen dekorativ auf ihrem Bett verteilt hatte. Ihnen musste sie nichts erzählen. Petra verspürte auf einmal den überwältigenden Wunsch, sich zurückzulegen. Sie streifte nur ihre Hausschuhe ab und öffnete den oberen Knopf ihrer Wollhose, bevor sie sich – ihre Lieblingspuppe im Arm – zusammenigelte. Es war eigentlich noch viel zu früh, um ins Bett zu gehen, dennoch dämmerte sie ein.
In ihrem Traum befand sie sich in einem prunkvollen Tanzsaal. Sie war ganz allein und bewunderte den Stuck und die prachtvollen Kristalllüster an der Decke. Das Parkett glänzte, und sie schien darüber hinwegzugleiten wie über eine Eisfläche. Am gegenüberliegenden Ende des Raums entdeckte sie einen goldumrahmten Spiegel. Sie ging darauf zu, konnte ihr Gesicht darin jedoch nur schemenhaft erkennen. Dennoch entzückte sie, was sie sah: Sie trug ein wundervolles goldenes Kleid, dessen Stoff zu fließen schien. Sie trat näher an den Spiegel heran und bemerkte, dass das Innere des Spiegels in Bewegung war. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass Wasser darin floss und sich die Falten ihres Kleides in den Wellen spiegelten und mit dem Wasser
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