Gewitterstille
Auge zu behalten, die vor der Anrichte im Wohnzimmer hockte und gerade eine der Schubladen ausräumte, in der sich die Tischwäsche befand. Es war Sophie im Moment völlig gleichgültig, dass Emily alles auf dem Boden ausbreitete. Hauptsache, sie war beschäftigt.
»Es gibt begründete Zweifel, Emily!«, rief sie plötzlich aus, als könne diese die Tragweite ihrer Äußerung verstehen. Sophie standen vor Glück die Tränen in den Augen. Ihr Fund war der Schlüssel zu Jens’ Zellentür. Sie überflog die an Frau Möbius gerichteten Zeilen von Christoph Kessler wieder und wieder und vergaß darüber Raum und Zeit. Dieser Brief war nur wenige Wochen vor seinem Tod datiert worden:
Liebe Luise, stand darin, ich hoffe, auch Du wirst mir irgendwann diesen Schritt verzeihen können, aber ich bin am Ende meiner Kraft und werde ihn gehen. Ich möchte mein Handeln nicht rechtfertigen, aber gerade Du wirst verstehen, wie sehr ich mich nach einem normaleren Leben sehne. Glaub mir, dass ich lange mit mir gerungen habe und große Angst habe vor diesem Schritt. Petra wird fraglos psychologische Hilfe benötigen, und ich werde Dr. Gomm benachrichtigen. Sie wird vermutlich versuchen, mich durch einen erneuten Suizidversuch zum Bleiben zu zwingen, aber diesmal wird es ihr nicht gelingen. Auch ich habe ein Recht auf ein normales Leben. Manchmal sieht sie mich an, als wüsste sie, dass ich sie verlassen werde. Wahrscheinlich klingt es verrückt, aber es gibt Momente, in denen ich nicht nur Angst um sie habe, sondern fürchte, sie könnte mir oder Corinna etwas antun …
Sophie hob den Kopf, als sie hörte, dass der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Sie blickte auf die Uhr. Es war bereits fast drei. Eigentlich hätte Georg längst hier sein müssen. Innerlich fluchte sie, weil sie die Papiere nicht mitgenommen und in ihrem Zimmer gelesen hatte. Jetzt musste sie Petra Kessler gegenübertreten. Sie raffte die Papiere auf ihrem Schoß zusammen, schob sie hinter ihren Rücken und unter ihren Po und rollte dann zu Emily hinüber, um sie hochzuheben. Die Kleine entwischte ihr allerdings und versteckte sich hinter dem Sofa. Offenbar hatte sie ihren neuen Spielplatz lieb gewonnen. Sophies Herz klopfte wild, während sie Petra Kessler beobachtete, die mit forschen Schritten durch die Diele auf sie zueilte.
»Hallo, Frau Kessler«, sagte Sophie und bemühte sich, dabei unbefangen und fröhlich auszusehen.
Auch Petra lächelte sie an. Dennoch erkannte Sophie sofort, wie angespannt sie war.
»Sophie, was machen Sie denn hier?«, fragte Petra Kessler und sah sich um. Um ihre Mundwinkel zuckte es, als ihr Blick den leeren Korb vor dem Kamin streifte. Sie räusperte sich und blickte Sophie aus kalten blauen Augen an. »Ich bin wirklich überrascht, Sie hier zu treffen.« Sie stieß ein nervöses Lachen aus. »Ich war der Meinung, das ist mein Haus. Was also haben Sie – oder sollte ich vielmehr sagen: was habt ihr – hier zu suchen?«
»Wir haben nur dem Makler Gesellschaft geleistet und … und ich habe mir auch einfach mal das Haus angesehen. Sie wissen ja vielleicht, ich habe geerbt …«
»So, so!« Petra Kessler ging zu der kleinen Emily hinüber, die hinter dem Sofa hervorkroch, und hob sie auf. Ihre Bewegungen wirkten hölzern.
»Oh, geben Sie mir Emily, Frau Kessler, ich gehe jetzt rüber.« Sie streckte ihre Arme nach Emily aus, die sofort heftig zu strampeln begann.
»Möchtest du ein Eis, Emily?«, flötete Petra Kessler. »Ich möchte wetten, du magst ein Eis.«
»Oh, das mag sie sicher, Frau Kessler, aber Anna wird damit nicht einverstanden sein.«
Das Wort Eis hatte auf Emily offenbar tatsächlich eine magische Wirkung. Sie hörte prompt auf zu strampeln und strahlte die Frau erwartungsvoll an.
»Gleich bekommst du ein Eis«, sagte Petra Kessler, ging aber nicht in Richtung Küche, sondern zum Kamin hinüber, auf dessen Sims eine Spieluhr mit filigranen Porzellanfiguren stand. Sie setzte Emily auf dem Boden ab, zog die Uhr mit spitzen Fingern auf und stellte sie vor das Kind auf das Parkett. Die Musik begann zu spielen, und Emily juchzte auf, schien alles um sich herum zu vergessen und blickte fasziniert auf die sich im Kreis und um die eigene Achse drehenden Porzellanpferdchen.
»Geben Sie ihr nicht die Uhr, die geht zu Bruch«, rief Sophie. Petra Kessler beachtete sie nicht, sondern schien für einen Moment versunken in den Anblick des kleinen Mädchens, das versuchte, sich ebenfalls im Kreis zu drehen, dabei immer
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