Gezeiten der Liebe
nicht. Wenn Cam erst wieder da ist und uns den ganzen Tag zur Verfügung steht, kommen wir viel schneller voran. Und sobald die Schule aus ist, kannst du uns öfter zur Hand gehen.«
»Die Schule ist schon aus.«
»Hmm?«
»Heute war der letzte Tage.« Seth strahlte übers ganze Gesicht. »Freiheit! Wir haben’s geschafft.«
»Heute?« Ethan hielt wieder in seiner Arbeit inne und runzelte die Stirn. »Ich dachte, das Schuljahr dauert noch ein paar Tage.«
»O nein.«
Irgendwo hatte er den Faden verloren, überlegte Ethan unsicher. Und es war auch gar nicht Seth’ Art – noch nicht jedenfalls –, freiwillig mit irgendwelchen Infos herauszurücken. »Hast du dein Zeugnis bekommen?«
»Ja – ich bin versetzt.«
»Laß mal sehen.« Ethan legte sein Werkzeug hin und wischte sich die Hände an seiner Jeans ab. »Wo ist es denn?«
Seth zuckte nur mit den Schultern und arbeitete ungerührt weiter. »Da drüben in meinem Rucksack. Ist doch nicht weiter wichtig.«
»Laß mal sehen«, wiederholte Ethan.
Daraufhin vollführte Seth, was Ethan insgeheim als seinen Privattanz bezeichnete. Er verdrehte die Augen, zog
die Schultern hoch und stieß einen leidgeprüften Seufzer aus. Komischerweise mündete das Ganze diesmal nicht wie sonst in einen deftigen Fluch. Er ging zu der Stelle, wo er den Rucksack hatte fallen lassen, und kramte darin herum.
Ethan beugte sich über die Backbordseite, um das Blatt, das der Junge schließlich in die Höhe hielt, entgegenzunehmen. Beim Anblick von Seth’ rebellischer Miene rechnete er mit dem Schlimmsten. Sein Magen krampfte sich zusammen. Die eventuell fällige Strafpredigt, dachte er seufzend, würde verflixt unangenehm für sie beide werden.
Nachdem Ethan den dünnen Computerausdruck überflogen hatte, schob er sich die Mütze in den Nacken, um sich am Kopf zu kratzen. »Ausschließlich Einser?«
Seth zog erneut eine Schulter hoch und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ja – und?«
»Ich hab’ noch nie im Leben ein Zeugnis ausschließlich mit Einsern gesehen. Sogar Phillip hatte früher ein paar Zweier und ab und zu sogar eine Drei.«
Sofort malten sich Verlegenheit und die Furcht, für einen Streber oder dergleichen Scheußliches gehalten zu werden, auf Seth’ Gesicht. »Ist doch keine große Sache.« Er streckte die Hand nach dem Zeugnis aus, doch Ethan schüttelte den Kopf.
»Und ob es das ist.« Er glaubte den Grund für Seth’ finstere Miene zu kennen. Es war nicht einfach, anders als der große Haufen zu sein. »Du hast eine Menge Köpfchen, und darauf solltest du stolz sein.«
»Es ist doch gar nicht schwer. Ganz anders, als wenn man ein Boot steuern muß oder so.«
»Wenn man schlau ist und seinen Kopf auch zu benutzen weiß, dann kann man fast alles lernen.« Ethan faltete den Bogen vorsichtig zusammen und steckte ihn in seine Tasche. Er wäre ja verrückt, wenn er das Zeugnis nicht hier
und da vorzeigen und damit renommieren würde. »Ich finde, wir sollten uns eine Pizza bestellen.«
Verblüfft kniff Seth die Augen zusammen. »Du hast doch diese faden Sandwiches zum Abendessen mitgebracht.«
»Die tun’s jetzt nicht mehr. Das erste Zeugnis eines Quinn mit lauter Einsern ist mindestens für eine Pizza gut.« Er sah, wie Seth den Mund öffnete und wieder schloß. In seinen Augen glomm ein Funke auf, bevor er den Blick senkte.
»Klar, find’ ich cool.«
»Kannst du noch eine Stunde aushalten?«
»Kein Problem.«
Seth griff nach seinem Sandpapier und arbeitete nahezu blind drauflos. Ihm verschwamm alles vor Augen, das Herz schlug ihm bis zum Hals. So war es jedesmal, wenn einer von ihnen sagte, daß er ein Quinn wäre. Offiziell lautete sein Name zwar immer noch DeLauter, und er mußte ihn auch oben auf jedes Referat schreiben, das er in der Schule einreichte. Doch zu hören, wie Ethan ihn einen Quinn nannte, ließ den Hoffnungsschimmer, den Ray vor Monaten in ihm entzündet hatte, eine Spur heller erstrahlen.
Er würde hierbleiben. Er würde einer von ihnen sein. Er würde nie wieder in die Hölle zurückkehren müssen.
Da lohnte es sich fast, daß er heute ins Büro der Moorefield zitiert worden war. Die stellvertretende Direktorin hatte ihn eine Stunde vor Schulschluß zu sich rufen lassen. So wie jedesmal war ihm das Herz in die Hose gerutscht, doch sie hatte ihm einen Stuhl angeboten und gesagt, sie sei sehr stolz auf die Fortschritte, die er in der letzten Zeit gemacht habe.
Mann, wie peinlich.
Mochte ja sein, daß er sich seit
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