Gezeiten der Liebe
nächste Boje heranholen.
Mittlerweile wußte er auch, wie man bei Krebsen Männlein von Weiblein unterschied. Jim sagte, man könne die Weibchen daran erkennen, daß sie sich die Fingernägel anmalten – ihre Kneifer waren im Gegensatz zu denen der Männchen knallrot. Irgendwie irre, daß die Muster auf ihren Bäuchen wie Geschlechtsteile aussahen. Kein Witz – die männlichen Krebse hatten dort ein großes, längliches T eingezeichnet.
Jim hatte ihm sogar Krebse bei der Paarung gezeigt – er nannte es ›gemischtes Doppel‹ –, und das war die absolute Härte. Das Männchen kletterte auf das Weibchen und blieb einfach auf ihm sitzen. In dieser Position schwammen sie tagelang herum.
Aber es schien ihnen offenbar zu gefallen.
Ethan hatte behauptet, die Krebse feierten Hochzeit, und als Seth daraufhin ungläubig lachte, hob er nur vielsagend eine Braue. Seth war so fasziniert von all dem, daß er zur Schulbücherei gegangen war, um sich über Krebse schlauzumachen. Inzwischen glaubte er zu verstehen, was Ethan meinte. Das Männchen beschützte das Weibchen, indem es auf ihm sitzen blieb, weil sie sich nur während der letzten Häutung paaren konnte, wenn ihre Schale weich und verletzlich war. Nach dem Akt hingen sie aneinander, bis die Schale der Partnerin sich wieder gefestigt hatte. Das Weibchen paarte sich nur ein einziges Mal – also war es wirklich so etwas wie eine Hochzeit.
Er dachte an die Trauung von Cam und Miß Spinelli – Anna, verbesserte er sich, er mußte sie jetzt ja Anna nennen. Ein paar von den Frauen hatten geheult, die Männer hatten gelacht und Witze gerissen. Was das ganze Theater
mit den vielen Blumen, der Musik und den Bergen von Essen sollte, verstand er nicht. Ihm kam es so vor, als heirate man nur, damit man Sex haben konnte, wann man wollte, ohne daß andere deshalb pampig wurden.
Aber cool war es schon. Er hatte noch nie bei so etwas mitgemacht. Es hatte ihm gefallen, obwohl Cam ihn vorher ins Einkaufszentrum mitgeschleift und sogar gezwungen hatte, Anzüge anzuprobieren.
Manchmal machte er sich allerdings Sorgen, was sich im Zusammenhang mit dieser Hochzeit alles ändern würde, wo er sich doch gerade an sein neues Leben gewöhnt hatte. Von nun an würde eine Frau bei ihnen im Haus wohnen. Eigentlich mochte er Anna ziemlich gern. Sie hatte ihn immer fair behandelt, obwohl sie Sozialarbeiterin war. Aber trotzdem – sie war eine Frau.
So wie seine Mutter.
Seth verdrängte diesen Gedanken schnell. Wenn er anfing, über seine Mutter nachzudenken, über das Leben, das er mit ihr geführt hatte – die Männer, die Drogen, die dreckstarrenden kleinen Zimmer –, dann wäre ihm der Tag verdorben.
Und in seinem Leben hatte es zu wenig schöne Tage gegeben, als daß er dieses Risiko eingehen wollte.
»Schläfst du mit offenen Augen, Seth?«
Ethans sanfte Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Seth blinzelte, sah die Sonnenfunken auf dem Wasser tanzen und die schaukelnden orangefarbenen Bojen. »Hab’ bloß nachgedacht«, murmelte er und holte schnell die nächste Boje ein.
»Ich denk’ aus Prinzip so wenig wie möglich nach.« Jim stellte die Falle auf das Dollbord und begann die Krebse zu sortieren. Sein wettergegerbtes Gesicht legte sich in Falten, als er grinste. »Davon kriegt man nur Hirnerweichung.«
»Scheiße.« Seth beugte sich vor, um die Ausbeute zu begutachten. »Dem da wächst ein neuer Panzer.«
Jim grunzte zustimmend und hielt einen Krebs in die Höhe, dessen Schale oben am Rücken aufgeplatzt war. »Und dieser hier wird schon morgen auf einem leckeren Sandwich liegen.« Er zwinkerte Seth fröhlich zu, bevor er den Krebs wieder in den Tank warf. »Vielleicht sogar auf meinem.«
Foolish, der seinem Namen wieder mal alle Ehre machte, schnüffelte an der Falle und provozierte damit einen kurzen, aber heftigen Aufstand der Krebse. Als die Scheren ihm bedrohlich nahe kamen, sprang der Welpe laut kläffend zurück.
»Nein, dieser Hund.« Jim schüttelte sich vor Lachen. »Der braucht sich vor Hirnerweichung nun wirklich nicht zu fürchten!«
Auch nachdem sie den Fang in den Hafen gebracht, den Tank geleert und Jim zu Hause abgesetzt hatten, war der Arbeitstag noch nicht beendet. Ethan ließ die Ruderpinne los. »Wir müssen noch in die Bootswerkstatt. Willst du mal übernehmen?«
Obgleich Seth’ Augen sich hinter der dunklen Sonnenbrille verbargen, wußte Ethan, wie verblüfft er war – sein offener Mund sprach Bände. Es amüsierte ihn,
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