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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Autos. Es war noch nie meine Art, synästhetische Empfindungen zu haben, Thomas. Trotzdem war es so. Ich weiß noch, dass ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl hatte, als würde mein Bewusstsein expandieren, wie das Universum am Anfang seiner Tage. Als würde es sich rasend schnell aufblähen und im selben Moment wieder zusammenziehen, wie ein gigantisches Herz. Als würde ich zu jedem einzelnen Menschen sprechen, den ich je getroffen habe. Und dann spürte ich plötzlich nichts mehr. Dann war Dunkelheit. Dann war ich überall und nirgends zugleich. Und dann war ich hier.

6
    Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn man seine Schuld nicht begleichen darf. Immer habe ich nach dem Grundsatz gelebt: Ein Mann von Ehre muss seine Schulden bezahlen, was auch geschieht. Jetzt weiß ich, dass ich wohl kein Mann von Ehre bin. Die Schuld, Helene, ist viel hartnäckiger, als Schulden es sind. Sie bleibt in der Welt, sosehr man auch versucht, sie zu begleichen. Ich habe geglaubt, wenn ich dir vergebe, dann kann man alles vergeben. Dann sind alle Regeln nichts mehr wert.
    Jetzt kommt es mir wie der Versuch vor, einen Kredit während einer Hyperinflation zurückzuzahlen. Der Betrag ist schnell beglichen, sogar mit Zinsen. Doch er ist es nur nominell. Alle wissen, dass die Tilgung im Grunde nichts wert ist: Auch wenn die Schulden beglichen sind, bleibt die Schuld in der Geschichte, Helene, sie   ist   die Geschichte, und wir sind dazu verdammt, unsere Rolle darin weiterzuspielen bis zum Ende aller Erinnerung. Man kann auf das Vergessen hoffen, und sicher hast du es getan; ich weiß es, denn auch ich wollte vergessen. Aber niemand beherrscht die Erinnerung, Helene. Niemand besiegt die Geschichte.
    Es gab nur diese eine Möglichkeit, unsere Bilanz auszugleichen, Helene. Ich dachte: Wenn deine Schuld ohnehin in der Welt bleibt, dann muss eben ich schuldig werden.
    Es wird nun nicht mehr lange dauern. Ich denke darüber nach, welches Bild wir unseren Kindern geboten haben. Ich habe dir nicht viel gezeigt von mir, und unsere Kinder, da bin ich sicher, haben gedacht, wir hassen einander. Wenn ich es von hier aus betrachte, dann erscheint mir das alles engherzig und klein. Eine Schande. Würde ich nicht an einem Schlaganfall sterben, ich stürbe vor Scham. Wir haben unser Leben miteinander vergeudet, und wir wussten es, noch während wir es taten, und wir änderten nichts.
    Liebe hat etwas sehr Wichtiges mit dem Erfolg gemein, weißt du, Helene. Die meisten Menschen glauben, das Ideal des Erfolgs wie der Liebe sei eine möglichst hohe Intensität. Auch ihr werdet das denken, Thomas, Stefanie. Eines Tages werdet ihr aber erkennen, dass die Erfüllung, die beides verspricht, nicht in der Intensität, sondern in der Dauer liegt. Etwas Intensives erlebt man nur wenige Male im Leben. Einen großen Geschäftsabschluss. Den Kauf eines lange gesuchten Kunstwerks. Das Gefühl, verliebt zu sein. Das alles sind nur kurze Momente. Aber die Erhaltung des Erfolgs und der Liebe ist nicht die Sache eines intensiven Höhenflugs. Die Erhaltung ist eine Sache des Engagements und der Pflege. Eine Sache der Arbeit. Die dauerhafte Erhaltung des Erfolgs und der Liebe, der man sich verschrieben hat, ist eine Lebensaufgabe.
    Ich habe dich immer geliebt, Helene. Du weißt es nicht, aber ich tue es noch heute. Ich habe dich geliebt, auch wenn ich nie herausgefunden habe, ob es eine Wahrheit über dich gibt.
    Wenn man eine Seele unter ein Mikroskop legen könnte, näher und näher heran, bis man ihre Einzelteile sähe, würde man in deiner eine Wahrheit finden? Bei dir ist es nicht wie bei mir: Meine Wahrheit liegt ausgebreitet hinter mir. Sieh dir mein Leben an, sieh dir an, was ich getan habe, und du weißt, wer ich bin. Ich habe für mein Ich gearbeitet. Aber du? Wolltest du das überhaupt jemals haben, ein Ich?
    Ich habe dir in all der Zeit viel vorgeworfen. Ich weiß schon nicht mehr, was alles. Manchmal hat mich allein die selbstgewisse Art gestört, wie du die Zigarettenspitze gehalten hast. Dann diese Art zu schweigen, dröhnender als das höhnischste Lachen. Ein Bollwerk gegen meine Bitten, mir zuzuhören. Ein falscher Ton in deiner Stimme, deine Teilnahmslosigkeit, wenn ich mich mit Freunden unterhielt. Deine Forderungen, was die Stiftung anging. Ich habe in allem der Versuchung widerstanden, die Liebe zu dir zu verraten. Was auch geschah, Helene: Ich habe mich immer daran erinnert, was du mir einmal bedeutet hast. Meine Liebe war größer als

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