Gibraltar
hohle Faust fallen ließ. Er gab ihr keinen Unterricht; Helene lernte, indem sie ihm zusah. Sie liebte ihn nicht. Seine Augen waren klar und hell, seine Hände kräftig wie die eines Holzarbeiters, dabei aber seidig; sein Lachen war laut und gesund. Es dauerte fünf Monate, dann teilte sie ihm am Telefon mit, dass es vorbei sei. Das war 1965. Sie war 18 Jahre alt.
In der Folgezeit machte sie Erfahrungen mit vielen anderen Männern. Nach der Schule war sie nach Stuttgart gezogen, um dort Ethnologie und Politik zu studieren. Sie wollte Hilfsprojekte in der Dritten Welt begleiten und irgendwann bei den Vereinten Nationen arbeiten. Ihre Eltern konnten ihr Studium nicht unterstützen; sie waren zu unbeweglich und fantasielos, um ihren Hof aus den Schulden herauszuhalten. Als sie das begriff, hatte Helene ihnen und dem Hof allerdings schon ihre gesamte Jugend geopfert. Sie erkannte, dass ihre Eltern untergehen würden, mit ihr oder ohne sie.
In der großen Stadt gewöhnte sie sich schnell an die einschlägigen Gebräuche. Sie war jung genug, um sofort das Interesse von Männern zu erwecken, und alt genug, um daraus ihren Vorteil zu ziehen.
Als sie bemerkte, dass das Kellnern eine zeitraubende und wenig ertragreiche Angelegenheit war, begann sie, die Messen zu besuchen, die in den Hallen auf dem Killesberg stattfanden. Zunächst lief sie in Kleidern und Pumps, die sie sich bei einer Kommilitonin geliehen hatte, durch die Gänge und gab sich als Sekretärin in der Mittagspause aus. Als sie herausgefunden hatte, in welchen Hotels und Restaurants sich die Geschäftsleute abends trafen, ließ sie sich dort ansprechen. Sie probierte eine Weile die Sekretärinnenrolle, stellte aber fest, dass die Wahrheit besser funktionierte: Eine junge Studentin voller Ambitionen, deren Verwirklichung allerdings noch in der Ferne lag, so dass sie dem hingebungsvollen Interesse an einem Mann nicht im Wege stehen konnten.
Diese Rolle, nahm sie an, legitimierte das einsame abendliche Sitzen in einer Hotelbar ausreichend. Sie besuchte, wenn es nötig war, einen Kongress über die moralische Verpflichtung Nachkriegsdeutschlands zu internationaler Entwicklungshilfe – ein Thema, über das Geschäftsmänner für gewöhnlich nach drei Minuten keine weiteren Einzelheiten mehr hören wollten.
In der Regel schlug sie vor, von der Bar an einen Tisch zu wechseln. Sie achtete darauf, ihren Wein sehr langsam zu trinken, den Durst des Mannes hingegen durch leidenschaftliches Interesse an seinem Geschäftsleben zu befeuern. Auf die Dauer war das ermüdend, doch sie lernte, mit großen Augen Fragen zu stellen, deren Antworten sie wenig interessierten. Ihre Geduld war gut investiert. Je länger sie die Männer bei ihrem Wein hielt, desto leichter wurde später ihre Arbeit auf dem Zimmer.
Sie ging niemals gemeinsam mit ihm am Empfang vorbei, sondern schickte ihn voraus, während sie selbst ihre »Nase pudern« ging. Auf diese Weise gab es außer dem Barmann niemanden, der sie mit ihm in Verbindung bringen konnte. Die Namen, die sie den Männern nannte, waren falsch.
Meist kam sie um den Geschlechtsverkehr nicht herum. So betrunken die Männer auch waren, in der Regel insistierten sie darauf; nur gelegentlich gelang es ihr, sie anderweitig zufriedenzustellen. Zu Beginn machte es ihr Schwierigkeiten, mit Männern intim zu werden, die sie weder kannte noch mochte. Aber es war dunkel, und durch den Wein rochen sie alle ähnlich, so dass sie sich vorzustellen begann, es sei immer derselbe. In ihrer Vorstellung war dieser Mann sanft und arglos und schlief bald ein. In den meisten Fällen entsprach das auch dem tatsächlichen Ablauf. Die anderen Fälle vergaß sie mit der Zeit.
Da die Männer es liebten, sich nach dem Verkehr in den Schlaf sinken zu lassen, konnte sie schon bald mit ihrer Arbeit beginnen. Sie machte kein Licht. Sie hatte sich eingeprägt, wo der Mann sein Jackett und seine Hose abgelegt hatte und wo in diesen Kleidungsstücken seine Brieftasche untergebracht war: Jackett-Innentasche oder Gesäßtasche der Hose, Kleingeld manchmal vorne rechts. Das Handgepäck lag gewöhnlich auf einem Stuhl oder Sofa, der Koffer stand im Schrank. Die Armbanduhr war die größte Hürde. Sofern der Mann sie anbehalten hatte, versuchte sie sich daran als Letztes, nachdem sie das Geld, Schecks, Manschettenknöpfe und bereits gekaufte Reisegeschenke für die Ehefrauen eingesammelt und sich selbst angekleidet hatte. Sie legte sich ein letztes Mal aufs Bett und
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