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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Augenblick kam er herein, erkannte mich an der roten Krawatte und setzte sich zu mir an den Tisch.
    Ich bin nie um eine Ansprache verlegen gewesen. Nicht, wenn ich ein schlechtes Quartalsergebnis bekannt geben musste, einen Rauswurf, irgendeine unbequeme Entscheidung. Ich habe immer daran gedacht, wozu es gut ist. Aber in diesem Augenblick brachte ich keinen Ton heraus. Der Junge sah mich an, und mir war das Ganze plötzlich ungeheuer peinlich. Er war recht schmal gebaut und größer als ich, vielleicht eins achtzig. Er trug diese Rapperklamotten, eine Baseballmütze, die viel zu klein eingestellt war für seinen Kopf. Ich habe das schon öfter gesehen, was ist nur mit den jungen Leuten los? Der Junge wirkte ungeduldig. Ich glaube, er hat in dem Augenblick genau wie ich bemerkt, welche Welten uns trennten. Er fischte sich eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Ich sagte: »Du darfst noch nicht rauchen.«
    Ich weiß. Eine blödsinniger Einstieg. Er fragte mich, ob ich ein Bulle sei. Mein Gefühl, hier in eine ganz schlechte Kopie der wirklichen Welt gerutscht zu sein, verstärkte sich. Ich versuchte, anders anzufangen.
    »Können wir irgendwohin gehen, wo nicht so viele Leute sind?« Eine missverständliche Frage, wie ich feststellte.
    »Fünfzig im Voraus«, sagte er. Im Halbdunkel sah er aus wie ein Erwachsener. Sein Gesicht war absolut ausdruckslos. Ich sehe den Menschen immer als Erstes in die Augen; wenn man das bei Erwachsenen macht, sieht man meistens eine Geschichte. Bei ihm sah ich nichts. Die Augen waren braun, mehr nicht.
    Ich hatte ein wenig Geld eingesteckt, lose in der Hosentasche. Hatte mein Portemonnaie nicht mitnehmen wollen. Warum gab ich ihm das Geld? Ich hätte ihm gleich sagen können, dass ich nicht zu diesen Leuten gehörte. Aber ich hätte ihm ohnehin Geld gegeben; im Grunde war ich aus diesem Grund hier. Er sagte: »Gleich.« Dann stand er auf und bedeutete mir, ihm zu folgen, wir gingen an den Toiletten vorbei, durch einen Flur, dann eine Treppe hinauf. Als wir vor der Tür standen und er im Begriff war, aufzuschließen, sagte ich: »Ich bin nicht deswegen hier.«
    Er sah mich misstrauisch an. »Bist du vom Jugendamt? Schickt die Keuler dich?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Niemand schickt mich. Ich bin dein Großvater.«
    Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Ich hatte gar nichts erwartet. Natürlich weiß ein Jugendlicher mit einer solchen Nachricht nichts anzufangen. Erst recht, wenn er aus solchen Verhältnissen stammt wie Donnie. Er sah mich nur verständnislos an.
    »Ich bin der Vater deines Vaters.«
    »Kann nicht sein, Mann. Meinen Vater gibt’s nicht. Ich hab keinen Vater.«
    »Jeder Mensch hat einen Vater.«
    Ich glaube, er hatte überhaupt keine Ahnung, was ich von ihm wollte. Ich sah in seinem Gesicht das Bemühen, den versteckten Sinn meiner Worte zu finden. Dann drehte er sich um, ließ mich stehen und stieg wortlos die Treppe hinunter. Er ging nicht schnell; er ging einfach. Ich folgte ihm durch die Tür nach draußen. Um die Ecke war ein Bolzplatz, da holte ich ihn ein. Der Regen hatte inzwischen aufgehört.
    »Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
    Er drehte sich um und schnippte seine Zigarette weg. »Ey, wat willstn von mir, Alter?«
    Was ich mir vorgestellt habe, weiß ich nicht genau. Es war kein klarer Plan, wie hätte es das auch sein können. Ich wollte ihm gern alles erzählen. Das, was ich von seiner Mutter wusste, von seinem Vater, davon, dass ich derjenige war, der verhindert hatte, dass die beiden seine Eltern sein durften. Ich glaube, ich hatte etwas Großmütiges vor, Thomas: den Jungen von der Straße holen. Ihm eine Ausbildung finanzieren, einen anständigen Job bieten. Ja, ich glaube, etwas in dieser Art war mein Wunsch.
    Aber dazu kam es nicht. In diesem Moment rief mich Holt an. Ich sagte ihm, ich könne nicht reden, aber darauf nahm er keine Rücksicht. Donnie drehte sich um und machte sich daran, wegzugehen.
    »Ich rufe wieder an«, sagte ich und wollte Holt wegdrücken. Vielleicht, wenn ich es getan hätte, wäre alles anders gekommen. Ganz sicher sogar. Aber es ging um die Bank, ich wusste, dass ich mich dem nicht einfach entziehen konnte. Ich hob das Telefon wieder zum Ohr, und während Holt sprach, hatte ich eine Art Vorahnung. Ein seltsames Gefühl; mir war, als hörte ich Farben. Das klingt seltsam, ich weiß. Ich hörte sie in der alten Linde, unter der ich stand, im bremslichtroten Rauschen der Blätter, im Ockerhupen eines

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