Gibraltar
schmiegte sich an ihn. Durch einen Kuss auf Stirn oder Wange prüfte sie die Tiefe des Schlafs. Wenn das betreffende Handgelenk unter dem Kissen oder dem Körper lag, bedrängte sie ihn so lange, bis er seine Lage veränderte. Dann ließ sie ihre Hand wie zufällig zu der Uhr wandern. Metallarmbänder öffneten sich geräuschvoller als solche aus Leder.
Sie nahm immer den Hinterausgang. Meist trug sie ein Kopftuch und eine Brille; so gut wie nie wurde sie beim Verlassen des Hotels gesehen. Sie nahm kein Taxi, sondern ging auf geradem Weg nach Hause in die Rosenbergstraße. In der Geräuschlosigkeit der Nacht konnte sie sicher sein, zu bemerken, wenn sie verfolgt würde.
Nach den ersten beiden Jahren erwies sich das Revier als erschöpft. Sie hatte die infrage kommenden Hotels – das Steigenberger in der Antoniusstraße, das Jacobis unten im Altstadtkessel, den Rüdesheimer Hof und noch einige kleinere Gasthotels – alle bereits zum zweiten Mal besucht. Sie spürte, dass das Risiko, erkannt zu werden, zu groß zu werden drohte. Ihr blieben zwei Möglichkeiten: die Stadt verlassen oder sesshaft werden. Sie wählte die erste – bald in immer kürzeren Abständen.
Nach einer Weile stellte sie fest, dass sie sich in eine Art Falle manövriert hatte. Ihre Arbeit bestand zum größten Teil aus Routine. Um sie für sie unterhaltsamer und damit letztlich effektiver zu gestalten, wäre es nützlich gewesen, Sympathie für die Männer zu empfinden. Das aber ließ sie nicht zu.
Urs Häberlin, den sie in dem 2-Sterne-Restaurant Marburger Hof kennenlernte, war ein gut aussehender, unterhaltsamer Freigeist, der den Traktorenbetrieb seines Vaters übernommen und in den letzten Jahren ein weltweites Vertriebssystem aufgebaut hatte. Er war anders als alle Geschäftsmänner, die sie sich bis dahin ausgesucht hatte. Seine Wortwahl klang durch die schweizerdeutsche Melodik geschmeidig, verriet aber gedankliche Schärfe und hohe Intelligenz. Jeder seiner Sätze schien eine Pointe zu haben. Er vermochte es, sie in ein Gespräch zu verwickeln, in dem es erst um hubraumstarke Traktormotoren, den entstehenden südamerikanischen Markt und schließlich um Helenes Meinung über das Thema deutscher Orchestermusik im osteuropäischen Ausland ging. Er war offen; er stellte ihr Fragen. Als sie gegessen und zu viel Wein getrunken hatten, gingen sie nicht miteinander ins Bett, sondern verabredeten sich für den nächsten Abend. Am nächsten taten sie das wieder, und dann wieder. Die ganze Zeit über wusste sie, dass sie einen Fehler machte. Nach dem dritten Treffen aber wurde ihr klar, dass sie in Wirklichkeit nicht Häberlins Geld, sondern seine Nähe wollte.
Seine Frage, ob sie ihn nach Buenos Aires begleiten würde, klang nicht wie ein Heiratsantrag, sondern beiläufig; wenn es zu diesem Zeitpunkt einer gewesen wäre, hätte sie ohne zu zögern ja gesagt. Häberlin war umtriebig und unermüdlich. Sie lernte Argentinien, Brasilien und Uruguay kennen und einige Brocken Spanisch. Ein halbes Jahr später unterzeichnete Häberlin einen Kooperationsvertrag mit der Firma Lancia über qualitativ hochwertige Bauteile für Motoren. Der Urlaub, zu dem die Geschäftsreise sich ausdehnte, führte sie von Genua über all die malerischen Städte der Toskana und endete in Rom.
Durch Häberlin lernte sie, wie einfach das Leben sein konnte, wenn man Verbindungen hatte und sie zu nutzen verstand. Für jemanden wie ihn schien alles leicht zu sein. Er bewegte sich zwischen seinen Kunden und Geschäftspartnern wie ein Tänzer, und wenn er einen Raum verließ, verblieb in ihm mehr Musikalität und Seele, als zuvor darin gewesen war.
Es hätte so weitergehen können. Der Mann an ihrer Seite war wohlhabend und in vielen Teilen der Welt zu Hause, und der Tag, an dem er sie zur Frau nehmen würde, war zum Greifen nahe. Er ließ sie wie selbstverständlich an seiner Lebensfreude und seinem Erfolg teilhaben. Außerdem liebte er sie.
Am Tag nachdem sie aus Italien zurückgekehrt waren, nahm sie alles Bargeld aus seiner Schreibtischschublade, fuhr zum Bahnhof und setzte sich in den nächsten Zug nach München. Es dauerte drei Jahre, bis Häberlin sie fand. Den Brief, den er ihr schrieb, schickte sie ungeöffnet an ihn zurück.
Aus Gründen, deren Unklarheit sie selbst verwunderte, stellte sie bei sich keinerlei Interesse an dem fest, was andere Menschen »Beziehung« nannten. Sie wusste, dass ein solches Arrangement im Wesentlichen darin bestand, fortwährend
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