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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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dein Verrat an mir. Glaube nicht, dass es mir leichtgefallen ist, dir nicht wieder zu verfallen. Ich musste dir ständig einen Schritt voraus sein, um mich nicht erneut der Gefahr deines Verrats auszusetzen. Um nicht in dein offenes Messer zu laufen.
    Du bist wie die Margot in Rudolf Schlichters Gemälde von 1924, die selbstsichere Frau mit Pagenschnitt und Zigarette, die bei unserer ersten Begegnung vier gestandene Großindustrielle zum Thema Kernkraft in Grund und Boden geredet hat. Alberts wollte damals in den Versuchsreaktor in Niedereschbach einsteigen, fast vierzig Jahre ist das jetzt her. Du hast uns einen Vortrag über die Gefahren der Atomkraft gehalten. Am Anfang lachten die Herren noch ungläubig. Nach einer Viertelstunde stand ich allein mit dir. Ich lachte nicht. Ich fand nicht, dass du recht hattest, aber die Art, wie du deine Meinung vorgetragen hast, hat mich beeindruckt. Es war damals nicht üblich, dass eine junge Frau vier gestandene Unternehmer über Becquerel und Halbwertszeiten belehrte. Ich hatte selbst keine Ahnung von diesen Dingen; als ich mich dann aber später damit beschäftigte, sah ich, dass alles, was du darüber gesagt hattest an diesem Abend, stimmte. Wenigstens das meiste.
    Du bist aber auch wie die Krankenschwester in Schads »Operation«, die dem Chefarzt still und zuverlässig die Instrumente reicht, während vor ihnen der geöffnete Körper des Patienten sein innerstes Geheimnis preisgibt. Schon am selben Abend, an der Bar, wusstest du das meiste über mich, was es zu wissen gab. Ich hätte mich mit allen möglichen Leuten unterhalten sollen, die bei dieser großen Feier zu Ehren Krupps eingeladen waren. Die gesamte deutsche Wirtschaftselite. Stattdessen standen wir in einer Ecke, und ich redete und redete, halb besoffen vom Wein, zur anderen Hälfte davon, dass du mir den ganzen Abend geduldig zuhörtest. Als wir uns verabschiedeten, hatte ich nicht mal erfahren, weswegen du da warst. Ich hatte überhaupt nichts erfahren. Aber ich schlief mit diesem Bild im Kopf ein, wie du mit leicht schiefgelegtem Kopf jedes meiner Worte behutsam aufzunehmen und im Katalog deiner Erinnerung abzulegen schienst.
    Du bist die Frau im »Bildnis Marianne von Werefkin«, eine Frau, die sich in der Öffentlichkeit keine falsche Bewegung leistet, die immer reibungslos funktioniert, oder die »Stehende Frau in Rot« von Egon Schiele, ohne Kopf, ungehemmt ihren Rock hebend, hemmungslos wie keine andere Frau, mit der ich je zusammen war. Du bist seine »Mutter mit zwei Kindern«, eine grässliche Totenfratze, die liebend ihre Kinder hält; »die Windsbraut«, die in inniger Umarmung mit Kokoschka schiffbrüchig auf dem unruhigen Weltmeer treibt. Du bist die wohlriechende, abweisende, herzliche, berechnende, aufrichtige, undurchsichtige Frau, die ich vom ersten Moment an geliebt habe. Du bist nicht ehrlich und warst es nie, du weißt nicht, wie du mich damit verletzt hast, Helene. Ich spüre den Verlust meiner Lebenskraft bei weitem nicht so schmerzlich wie den deines Vertrauens. Du hast mich gezwungen, dich fortzustoßen, obwohl ich es dir leichtmachen wollte. »Hast du mir etwas zu sagen?«, habe ich dich gefragt. Wir saßen beim Abendessen, nachdem Keitel in der Bank gewesen war. Dein Blick war offen und direkt, aber du … Ich bin sicher, du erinnerst dich, Helene, ich bin … es hat mich wütend gemacht, diese Ohnmacht, aber ich … ich riss mich zusammen. Du hast nie erlebt, dass ich geschrien hätte, das hatte ich nicht nötig. Aber ich habe nur deswegen nicht geschrien, weil ich dann nicht mehr aufgehört hätte. Ich war so schrecklich wütend, wie eure Mutter bei ihrer letzten Chance saß und mir mit Unschuldsblick ins Gesicht log …
    Und ich weiß noch, wie ich mich zu jedem einzelnen Wort zwingen musste. Wie ich meine Tränen hinunterkämpfen wollte, es aber nicht schaffte. Wie ich mit erstickter Stimme so etwas aufsagte wie ein Vermächtnis zu Lebzeiten: »Unsere Ehe ist vorbei. Nicht, dass wir uns scheiden lassen. Du wirst dich niemals von mir scheiden lassen, niemals. Du hast keinen Freund mehr in mir.«
    Und du hast mich nur mit diesem seltsam wissenden und zugleich teilnahmslosen Blick angesehen und deinen Tafelspitz geschnitten. Du wusstest, wie ernst es mir war. Du wusstest es und hast nichts …

HELENE

1
    H elenes erster Mann war Schauspieler. Von ihm lernte sie, wie man sich in einem Restaurant benahm: dass man sich nicht zum Essen herunterbeugte und einen Olivenkern in die

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